Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Bis die Finger bluten
Mehr als eine Bierzelt-Gaudi – Echte Fingerhakler brauchen ordentliches Training
Die Tür geht auf, der Blick fällt auf allerlei Gerätschaften in einem nüchternen Raum. Für Nichtsportler könnten es Folterinstrumente sein. Fitness-Begeisterte würden vermutlich eher an die Einrichtungen von Sportstudios denken. Prinzipiell wären sie damit auf der richtigen Spur, zumal auch der Geruch nach Schweiß in der Luft hängt. Und wirklich: Im Raum stehen Trainingsgeräte, die dem Muskelaufbau dienen. Es geht aber weder um Ringen, Bodybuilding oder sonst etwas, das sich eine breite Öffentlichkeit vorstellen kann. Trainiert wird hier ein Nischensport: Fingerhakeln.
Nichteingeweihte mögen nun glauben, es handle sich dabei um eine Bierzelt-Gaudi, bei der voluminöse, angetrunkene Männer in bayerischer Tracht Urlaute ausstoßen und sich gegenseitig über den Tisch ziehen. Ein Irrglaube, wie Markus Geisenhof erklärt: „Ohne hartes Training geht gar nichts. Beim Wettkampf braucht es neben Körperkraft zudem die richtige Technik.“
Der drahtige 33-Jährige war es, der die Tür aufgesperrt hat. Er ist Zerspanungsmechaniker mit eigenem Betrieb und gibt den Trainer im einem der erfolgreichsten Fingerhakler-Vereine, dem Gau Auerberg. In den Namen ist der höchste Berg der Gegend aufgenommen, eine 1055 Meter hohe Wegmarke zwischen Ostallgäu und Oberbayern. Das Herz des Vereins schlägt aber in Bernbeuren. Die ländliche Gemeinde liegt am Fuß des Auerbergs. Mit allen Weilern und Höfen kommt sie auf gerade mal rund 2400 Einwohner. Eine sehr überschaubare Welt abseits großer Städte.
In diesem Umfeld sind die Fingerhakler eine Macht. Neben dem TSV, den Schützen oder Trachtlern gehören sie zu den größten Vereinen am Ort. Rund 300 Mitglieder seien es, sagt Geisenhof. Ein Dutzend davon hat sich hinter ihm aufgebaut, wartet. Es ist Dienstagabend, 20 Uhr, der wöchentliche Trainingstermin steht an. Das heißt eineinhalb Stunden ranklotzen. Dafür will das Grüpplein nun in den Sportraum. Dieser befindet sich in der Auerberghalle, einem Mehrzweckgebäude, wie es in vielen Dörfern zu finden ist. Auf dem Gang stehen dann auch alte Theaterkulissen der örtlichen Bauernbühne. Gedämpft ist auch die probende Ortsmusi zu hören. Die sanften Töne gehen aber rasch im angestrengten Ächzen der Fingerhakler unter.
Zirkeltraining. Geisenhof kommandiert: „Und eins, und zwei ...“An einer von Vereinsmitgliedern selber zusammengeschweißten Kraftmaschine schindet sich Magnus Eierstock, mit 64 Jahren der Älteste im Training. „Seit 1984 dabei“, berichtet der auch im Alter kräftig gebliebene Herr, ein rechtes Mannsbild eben, der stilecht in Tracht trainiert und im wahrsten Sinne des Wortes zupackende Hände hat. Sie sind in unzähligen Wettkämpfen erprobt. Eierstock philosophiert über die vielen Kampferfahrungen: „Wenn du gewinnen willst, musst du dir den Gegner schon zurechtlegen.“
Seine Worte sollen heißen, dass man nach dem Los-Kommando schneller anziehen sollte als der andere. Dies sei der halbe Sieg. Prinzipiell sieht die Zweikampfsituation folgendermaßen aus: Zwei Männer sitzen sich am Tisch auf Hockern gegenüber. Jeweils ein Arm ist vorgestreckt. Eine lederbezogene Hanfschlaufe verbindet üblicherweise die Mittelfinger der Kontrahenten. Auch andere Finger wären möglich, außer dem Daumen. Schließlich heißt es: „Beide Hakler – fertig – zieht!“Wer über die Seitenlinie des Tisches gezogen wird oder den Ring loslässt, hat verloren.
Eine solche Duellsituation simuliert Eierstock gerade. Mit dem Mittelfinger der rechten Hand in besagter Schlaufe zieht er über eine Rolle Gewichte hoch. Der Arm bleibt gestreckt. „Ziehen muss der ganze Körper“, erklärt der Mann. Es sind weit über 100 Kilogramm, die er bewegt. Bei ihm sieht das ziemlich leicht aus. Fast wie ein Kinderspiel. Um festzustellen, welche Anstrengung sich dahinter verbirgt, muss man sich aber selber an die Maschine setzen. Erst den Mittelfinger wie bei Geräteturner mit Magnesiumpulver rutschfester
machen, ihn dann durch die Schlaufe stecken. „Zieht“, ruft jemand aus dem Hintergrund. Es funktioniert sogar, aber mit wesentlich weniger Kilogramm Eisen als bei Eierstock. Mit Blick auf eine Kraftskala wäre vielleicht „schwächlich“die treffende Einstufung. Nach ein paarmal Ziehen meldet sich dann auch der bereits geplagte Mittelfinger. Die Haut ist rot. Richtige Fingerhakler haben an der betroffenen Fingerwurzel Hornhaut. Aber selbst bei ihr kommt es vor, dass sie bei den teilweise nur Sekunden dauernden Wettkämpfen abschält. Für die Hakler ein gewohnter Effekt. „Da muss du durch“, kommentiert Veteran Eierstock. „Ein guter Bursch’ hält es aus.“
Rund 45 Aktive zählt der Verein, darunter sind vor allem Landwirte, Handwerker oder Mechaniker. Mancher trainiert zusätzlich noch daheim, etwa Klimmzüge mit dem Mittelfinger am Türrahmen. Ernstfall ist in der Regel dreimal im Jahr: bei den bayerischen, den deutschen und den alpenländischen Meisterschaften. Wobei die Szene überschaubar ist. In Bayern existieren gerade mal neun Vereine. Im restlichen Deutschland wird seit Jahren nur im Rheinland versucht, den Sport zu etablieren. Ansonsten sind noch die Österreicher mit dabei.
Im ernsthaften Wettbewerbsbetrieb treten nur Männer an. „Die Frauen schauen zwar gerne zu, aber Hakeln mögen sie nicht“, heißt es aus der Trainingsrunde. Satzungsgemäß sind sie als Aktive auch nicht vorgesehen. Dies dürfte an der Historie liegen. Laut Überlieferung sollten mit dem Fingerhakeln im Alpenraum einst Männer-Streitereien am Biertisch beigelegt werden – sozusagen als eine friedliche Alternative zum Zerlegen des Wirtshauses.
Als organisierter Sport ist das Hakeln hingegen eine eher junge Entwicklung. Der Verein in Bernbeuren wurde 1961 gegründet. Auf die Frage, warum ausgerechnet hier, meint Trainer Geisenhof salopp: „Weil hier die starken Männer daheim sind.“Dahinter versteckt sich durchaus so etwas wie ein gemeinschaftsbildendes Hochgefühl körperlicher Robustheit – und auch „die Freude am Zweikampf“, wie Geisenhof sagt.
Damit die Kraft aber in allen zum Fingerhakeln nötigen Körperteilen wirklich aufgebaut wird, ist der Verein beim Einrichten des Trainingsraums richtig kreativ geworden. Neben modifizierten Kraftmaschinen für die Eigenheiten des Sports existiert noch etwas Bizarres: eine Kuheuter-Imitation aus Kunststoff. Die dazugehörige Übung: melken. Der noch junge Landwirt Max Socher hat herzhaft nach den Zitzen gegriffen. Vom Körpervolumen her gehört er definitiv zur Wettkampfklasse der Schwergewichte.
Socher gilt als Hoffnung des Vereins. Im Juniorenbereich ist es ihm bereits gelungen, alle relevanten Meisterschaften zu gewinnen. Aber jetzt melkt er erst einmal: „Das kräftigt die Unterarme.“Bei Socher bedeutet Fingerhakeln fast eine familiäre Verpflichtung. Sein Vater ist mit dabei, ein Onkel ebenso. „Neben dem Sport geht es auch um den Spaß, den wir hier haben – und um die Kameradschaft“, betont Socher. Trainer Geisenhof schiebt lächelnd nach: „Erst kämpfst du am Hakeltisch, danach gibt es ein Fest.“
Für eine große Party reicht es nach dem Training nicht mehr. Aber die Mannschaft rückt einfach einige Räume weiter. Dort ist die Vereinsstube mit vielen Pokalen in den Regalen. Bier kommt auf den Tisch. „Wir müssen doch den Flüssigkeitsverlust ausgleichen“, flachst einer der Fingerhakler. Irgendwie verständlich. Eineinhalb Stunden stemmen, ziehen, wuchten und melken sind schon schweißtreibend. Selbst als Zuschauer bekommt man Durst. Und ein Bier.
Wenn du gewinnen willst, musst du dir den Gegner schon zurechtlegen. Magnus Eierstock, mit 64 Jahren ein erfahrener Hakler
Ziehen muss der ganze Körper.
Magnus Eierstock über die richtige Technik