Schwäbische Zeitung (Tettnang)
A wie alternativlos
Nur auf seine Weltmeister kann sich Joachim Löw derzeit verlassen – mit Abstrichen
LEVERKUSEN - Das Sprichwort mit der verpatzten Generalprobe und der gelungenen Premiere dient immer auch als Rettungsanker, als Hoffnung in der Not.
An diese Devise klammert sich die deutsche Nationalelf nach dem ernüchternd schwachen 2:1 (2:0) im letzten WM-Test gegen Saudi-Arabien.
Immerhin konnte der amtierende Weltmeister wenigstens den Antilauf von fünf Spielen ohne Sieg beenden. Eine statistische Nebensache. Tatsächlich entfachte der Auftritt der Mannschaft von Joachim Löw, bevor es am Dienstag nach Russland geht, mehr Sorgen als Hoffnung mit Blick auf die Mission Titelverteidigung.
Großflächige Lücken im Mittelfeld, eine zu offene Deckung bei Kontern nach Ballverlusten. Der Bundestrainer fasste die Beinahe-Blamage kompakt zusammen: „Zu viele Chancen ausgelassen und zu viele Chancen zugelassen. Wir haben gut angefangen, die erste Halbzeit war ordentlich. Dann haben wir nachgelassen.“
Weder in der Defensive noch in der Offensive stimmts, mit Ausnahme des Beginns, als man höher als 2:0 hätte führen können. Vor allem BaldWM-Debütant Marco Reus spielte erfrischend kreativ. Im Mittelfeld schlug man zu viele lange Bälle, vorne wurde man einfallsloser und kam zu weniger Gelegenheiten. Der Gegner, gewiss kein Schwergewicht im Weltfußball und am Donnerstag (17 Uhr/ARD) Russlands Gegner im WM-Eröffnungsspiel, spürte, dass was geht, und wurde mutiger. Die DFB-Abwehr wackelte vor allem in der Endphase bedenklich. Ein Trend oder lag dies nur an den vielen Wechseln (fünf bis zur Schlussviertelstunde)?
B-Elf wie eine Wundertüte
Auffällig nicht erst seit der 1:2Schlappe im Test vor acht Tagen in Österreich: Den Spielern aus der zweiten Reihe fehlt das Attribut Weltklasse. Nur das A-Team, sprich die Helden von Brasilien 2014, also Torhüter Manuel Neuer, die Innenverteidigung um Mats Hummels und Jérôme Boateng sowie die Mittelfeld-Zentrale mit Toni Kroos und Sami Khedira, haben die Qualität und das Niveau für die Titelverteidigung – wenn sie denn in Topform kommen. Beim zuletzt verletzten Boateng sowie Thomas Müller scheint dieser Weg aktuell am weitesten zu sein.
Der aus Bösingen bei Rottweil stammende Joshua Kimmich hat Steigerungspotenzial, wirkt nicht so giftig wie seit der EM 2016, auf der anderen Abwehrseite bildet Jonas Hector eine Schwachstelle. Erfreulich: die Torjägerqualitäten von Timo Werner, der Esprit von ConfedCup-Siegerkapitän Julian Draxler und eben Reus, der an beiden Treffern beteiligt war. Der Pfosten verwehrte ihm einen eigenen Treffer. Der Dortmunder hat den an Knie und Rücken verletzten Mesut Özil den Platz in der WM-Startelf vorerst abgeluchst. Dennoch gilt: Jogis A-Elf ist (beinahe) alternativlos.
Die B-Elf um Niklas Süle, Antonio Rüdiger, Ilkay Gündogan, Leon Goretzka und Mario Gomez kommt derzeit als Wundertüte daher. Und dann droht auch noch Gündogans und Özils Erdogan-Affäre zur zähen Fortsetzungsgeschichte zu werden. Für die gesamte Mannschaft.
Talentiert, aber inkonstant und daher unberechenbar. Khedira nervte der Leistungsabfall: „In der zweiten Halbzeit haben wir alles vermissen lassen.“Für Hummels war es „kaum zu erklären“.
Doch Löw behält seinen Optimismus, seine Siegessicherheit, gespeist aus den Erlebnissen von fünf Turnieren als Chefcoach. „Wir können Dinge verbessern, absolut. Aber nach zwei Wochen Trainingslager fehlen die Kräfte, das ist normal. Nächste Woche werden wir mehr Power haben.“Der Bundestrainer ganz cool: „Sorgen mache ich mir keine, weil ich weiß, dass wir uns weiter steigern. Wenn das Turnier beginnt, werden wir da sein.“Kommt es am kommenden Sonntag in Moskau gegen Mexiko (17 Uhr MESZ) zur Form-Punktlandung?
Ja, ja, die gute, alte Turniermannschaft ... – das nächste Sprichwort.
Kann man sich wieder auf das stetige Steigern verlassen?