Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Merkel sucht Kompromiss
Kanzlerin baut der SPD bei Transitzentren eine Brücke
BERLIN (dpa) - Im Streit zwischen Union und SPD über die Asylpolitik zeichnet sich eine Annäherung ab. Kanzlerin Angela Merkel stellte klar, dass Asylbewerber maximal zwei Tage in den geplanten Transitzentren an der Grenze zu Österreich bleiben sollen. „Man muss mit 48 Stunden hinkommen, das sagt das Grundgesetz“, betonte sie am Mittwoch in der ARD-Sendung „Farbe bekennen“. So könnten Merkel und Innenminister Horst Seehofer (CSU) der SPD eine Brücke bauen. Der Koalitionspartner hat den Transitzentren bisher nicht zugestimmt.
Um bereits in anderen EU-Ländern registrierte Asylbewerber zurückzuweisen, wären weitere bilaterale Abkommen nötig. Seehofer bemüht sich heute in Wien um die Unterstützung Österreichs.
RAVENSBURG - Drei volle Arbeitstage hat sie ihn gekostet, sagt Ernst Ammann. Drei Tage, in denen er über Broschüren und Leitfäden gebrütet hat, in denen es ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben hat. Sie, das ist die Europäische Datenschutzgrundverordnung, kurz EUDSGVO. Das Gesetz, das seit Ende Mai wirksam ist, ist für die einen ein riesiger Fortschritt für den Datenschutz. Für die anderen aber ist es ein gigantisches Ärgernis. Zu letzterer Gruppe gehört Ernst Ammann. Ammann ist seit Januar 2015 Leiter einer Selbsthilfegruppe für ParkinsonKranke in Lindau. In Ammanns Gruppe treffen sich Menschen, die an der unheilbaren Nervenkrankheit leiden, sie erzählen von ihren Beschwerden, geben sich Tipps und Unterstützung. Informationen, wie sie sensibler kaum sein könnten. Genau solche Informationen soll die EU-DSGVO besser schützen. Doch für Ammann ist das Gesetz vor allem eines: „eine Ungeheuerlichkeit“.
„So legen wir das Ehrenamt tot“
Er ärgert sich über die „vergeudeten Stunden“ehrenamtlicher Arbeit für die EU-DSGVO. Vergeudet, weil er sie lieber mit der Beratung der Selbsthilfegruppen-Mitglieder verbracht hätte, sagt Ammann. Die Dokumentationspflicht bereitet ihm Bauchschmerzen: Dass er nun festhalten muss, welche Daten er über wen zu welchem Zweck gespeichert hat – und den Eigentümern der Daten auf Anfrage darüber Auskunft geben muss. Die „Abmahnanwälte“, wie er sie nennt, machen ihm Angst: Ammann fürchtet, dass ihn einer davon „abzocken“könnte, weil er Daten nicht gesetzestreu verarbeitet hat. Und dann sind da die Bußgelder: In Artikel 83 der EU-DSGVO ist von Geldbußen bis 20 Millionen Euro bei Verstößen gegen das Gesetz die Rede. Was passiert, fragt sich Ammann, wenn er mit seinem Privatvermögen haften muss, weil er nicht alle Auflagen erfüllt hat? Er sagt: „So legen wir das Ehrenamt in Deutschland tot.“
Ammanns Sorgen teilen offenbar viele Ehrenamtliche in Selbsthilfegruppen. Bei der LAG etwa, der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe behinderter Menschen in BadenWürttemberg, heißt es, ein Fünftel der 56 Mitgliedsgruppen hätten sich schon gemeldet wegen Anfragen zur EU-DSGVO, zur Protokollierungspflicht, zur korrekten Sicherung und Verschlüsselung der Daten. Bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe, unter deren Dach sich Gruppen für chronisch Kranke, Behinderte und deren Angehörige in ganz Deutschland organisieren, ist von zwei bis drei Anfragen pro Tag die Rede. Die DSGVO, sagt die Sprecherin eines bundesweiten Selbsthilfegruppen-Dachverbands, „blickt kein Mensch“. Gerade für Menschen mit Beeinträchtigung sei das Gesetz kaum verständlich.
Aber wie berechtigt ist die Angst der Selbsthilfegruppen vor der Datenschutzgrundverordnung?
Michael Goetz sagt: „Ich sehe die Gefahr nicht als sehr groß an.“Goetz ist Rechtsanwalt, seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Datenschutz im sozialen Bereich. Seit Wochen hält Goetz, der im hessischen Stadtallendorf arbeitet, in ganz Deutschland Vorträge zur Auswirkung der EU-DSGVO auf Selbsthilfegruppen. Seine Einschätzung: Bei der Protokollierung dürften die Verantwortlichen in den Selbsthilfegruppen auf der sicheren Seite sein, wenn sie Vertrauliches aus den Gruppensitzungen auch vertraulich behandeln – und wenn sie immer um Erlaubnis bitten, bevor sie eine Information zu einer Person veröffentlichen. „Sehr, sehr vorsichtig“, sagt Goetz, sollten die Gruppen bei der Weitergabe von Daten sein – vor allem, falls sie in irgendeiner Form mit Pharmaunternehmen zusammenarbeiten. Sollte die Selbsthilfegruppe eine Webseite haben, rät er dazu, dort eine Datenschutzerklärung zu veröffentlichen. Und er rät davon ab, vertrauliche Informationen zur Gruppe über Privatnachrichten auf Diensten wie WhatsApp weiterzugeben.
Wie groß ist das Abmahn-Risiko?
Zum Abmahn-Risiko für Selbsthilfegruppen sagt Goetz: „Da sehe ich keine allzu große Gefahr.“Sogenannte Abmahn-Anwälte gingen Verletzungen im Wettbewerbsrecht nach – ein Bereich, der wohl nicht betroffen sei von der EU-DSGVO. Und der mit Selbsthilfegruppen gar nichts zu tun habe. Und auch in Sachen Geldbußen gibt Goetz weitgehend Entwarnung: Für die Sanktionen zuständig wären die Datenschutzbeauftragten der Länder. Und die hätten zuletzt immer wieder betont, dass sie gerade bei kleineren Unternehmen und Organisationen beratend tätig sein wollen. Es gebe bisher „so gut wie keine“Verfahren wegen Datenschutzverstößen im sozialen Bereich. Und das, sagt Goetz, werde sich wohl auch künftig nicht ändern.
Einen Fortschritt in Sachen DSGVO wünschen sich übrigens sowohl Rechtsanwalt Goetz als auch der Lindauer SelbsthilfegruppenLeiter Ammann: Dass der Bundestag über nationale Regeln DSGVO-Bußgelder gegen Ehrenamtliche ausdrücklich ausschließt. Und beide werfen den Verantwortlichen in Politik und Verbänden eines vor: dass sie die Öffentlichkeit nicht viel früher aufmerksam gemacht hätten über die Folgen der EU-DSGVO. Denn in Kraft getreten ist das Gesetz schon im Jahr 2016 – zwei Jahre also, bevor es Ende Mai wirksam wurde.
Was der politische Vater der EUDSGVO im Europaparlament zu den Ängsten von Selbsthilfegruppen sagt, wäre vermutlich auch interessant. Doch der Grünen-Europaabgeordnete Jan-Philipp Albrecht fand trotz mehrfacher Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“keine Zeit, über das Thema zu sprechen.