Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Mehr Übergriffe an Gerichten
Debatte um Kopftuch von Lehrerinnen dauert an – Heute haben Schulen Ermessensspielraum
STUTTGART (kab) - Immer häufiger kommt es in Gerichten in BadenWürttemberg zu Eskalationen. Beleidigungen und Bedrohungen nehmen zu. Das legen aktuelle Zahlen aus dem Justizministerium nahe, die der „Schwäbischen Zeitung“vorliegen. Ressortchef Guido Wolf (CDU) verweist darauf, dass die Stellen für Wachtmeister an Gerichten zwar bereits aufgestockt wurden. „Wir werden in den kommenden Jahren aber noch mehr Personal brauchen“, sagte Wolf – vor allem, um die Eingänge zu kontrollieren.
STUTTGART - Es treibt Fereshta Ludin noch immer die Tränen in die Augen, wenn sie an die Zeit nach ihrem Referendariat denkt. Heute vor 20 Jahren, am 13. Juli 1998, übernimmt das Land Baden-Württemberg die damals 26-jährige Lehrerin wegen ihres Kopftuchs nicht in den Schuldienst. Der damit beginnende „Kopftuchstreit“ist zwar seit 2015 juristisch beigelegt – die Debatte dauert aber bis heute an.
Sie habe es nicht glauben können, dass sie nur wegen ihres Kopftuchs nicht eingestellt wird, erinnert sich Ludin bei einer Tagung in Stuttgart. „Ich habe mich auf das Kopftuch reduziert gefühlt. Und was da alles hineininterpretiert wurde – es war ganz egal, ob ich qualifiziert war, oder nicht.“Heute lebt Ludin in Berlin und unterrichtet an einer Privatschule. „Es ist schade, dass wir auch nach 20 Jahren noch über das Thema reden müssen“, sagt Ludin. Verbessert habe sich die Situation zwar, dennoch vermisst die gebürtige Afghanin „starke Signale vom Staat, die den Frauen mit Kopftuch ihre Würde zurückzugeben.“Zumal das Kopftuch pauschal kein Symbol für die Unterdrückung der Frau sei, sondern in vielen Fällen eine bewusste, individuelle Entscheidung.
„An Schulen nichts zu suchen“
Gegenteilig bewertet das Abdel-Hakim Ourghi, Islamwissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. „Das Kopftuch ist ein Überbleibsel der patriarchalischen Strukturen in der islamischen Gesellschaft.“Es sei ein Symbol des politischen Islams und ein Instrument, um Frauen zu unterdrücken. Daher sei das Kopftuch nicht mit anderen religiösen Symbolen zu vergleichen. „An deutschen Schulen hat das Kopftuch nichts zu suchen“, sagt Ourghi.
Die muslimischen Gemeinden im Westen hätten durchaus Strategien entwickelt, um Mädchen zu zwingen, das Kopftuch zu tragen. Etwa durch Denunziation und Isolation. Durch das Tragen des Kopftuchs würden diese Mädchen wiederum daran gehindert, etwa am Schwimmoder Sportunterricht teilzunehmen. Dadurch sieht Ourghi im Kopftuch ein Instrument, um die Integration zur verhindern. Trotzdem hält er ein generelles Verbot für problematisch, da es Menschen gezielt ausgrenze. „Es ist die Aufgabe des liberalen Islams, die Menschen darüber aufzuklären, dass das Kopftuch ein Mittel ist, um Frauen zu kontrollieren.“
Aus Sicht der Sozialwissenschaftlerin Gökce Yurdakul liege das Problem aber viel mehr darin, „dass Frauen mit Kopftuch immer noch als Opfer dargestellt werden“, sagt sie. Dabei könne das Kopftuch im Gegenteil auch ein Symbol der Selbstbestimmtheit sein, weil die Frauen selbst entscheiden, was sie von ihrem Körper zeigen wollen, und was nicht. Zudem würden rund 70 Prozent aller Musliminnen kein Kopftuch tragen. Muslimische Frauen würden nicht unabhängig, wenn sie ihr Kopftuch abnehmen, sondern wenn sie finanziell eigenständig sind, sagt Yurdakul. Dieser Prozess werde allerdings gebremst, da Frauen mit Kopftuch und türkisch-klingenden Namen auf dem Arbeitsmarkt geringere Chancen als Mitbewerber hätten.
Ein Kopftuchverbot habe aus Ludins Sicht außerdem negative Auswirkungen auf die Integration: „Es führt dazu, dass das Kopftuch kriminalisiert wird und dazu, dass sich viele für etwas benachteiligt fühlen, das ein Teil ihres Lebens ist.“Aber sie betont: Keine Frau sollte unter staatlichem oder familiärem Druck stehen, das Kopftuch zu tragen.
Zumindest an Schulen darf das Kopftuch seit 2015 kein Grund sein, eine Lehrerin nicht einzustellen. Vorangegangen war allerdings ein länger Streit: Als Ludin wegen ihres Kopftuchs nicht eingestellt wurde, klagte sie durch alle Instanzen. 2003 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass ein Kopftuchverbot ohne Gesetzesgrundlage nicht zulässig ist. Was zunächst wie ein Sieg erschien, wandelte sich ins Gegenteil. Mehrere Bundesländer, Baden-Württemberg war das erste, haben ein gesetzliches Kopftuchverbot an staatlichen Schulen erlassen. Zwölf Jahre später kippte das Bundesverfassungsgericht das Urteil und stufte ein generelles Kopftuchverbot als verfassungswidrig ein. Seither dürfen Schulen das Kopftuch nur dann verbieten, wenn dadurch der Schulfriede gefährdet ist.
Keine unlösbaren Probleme
Wann der Schulfriede gefährdet ist, sei allerdings nicht konkret festgelegt und liege im Ermessen der jeweiligen Schule, sagt eine Sprecherin des Kultusministeriums BadenWürttemberg. „Uns sind keine unlösbaren Probleme in den Schulen wegen des Tragens eines Kopftuchtuchs bekannt.“Wie viele Frauen heute in Baden-Württemberg mit Kopftuch unterrichten, das erfasse das Kultusministerium nicht. Auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages können nur die Fälle in Baden-Württemberg aufzeigen, über die in verschiedenen Tageszeitungen berichtet wurde: 2017 waren das Berichte über zwei Lehrerinnen in Stuttgart und Ludwigsburg und eine Meldung, dass die Schulämter Ludwigsburg und Pforzheim Lehrerinnen mit Kopftuch eingestellt haben. Im Verbreitungsgebiet der „Schwäbischen Zeitung“gibt es eine Lehrerin, die in Tuttlingen mit Kopftuch unterrichtet.
Aber auch wenn Lehrerinnen mit Kopftuch nun unterrichten dürfen, einen vollständigen Sieg sieht Ludin darin nicht. Das Kopftuch werde in der Gesellschaft immer noch als negativ angesehen. Wenn Politiker im Bundestag von „Kopftuchmädchen“sprechen, dann gehe es ihr ganz elend dabei.