Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Neonazis breiten sich im Allgäu aus
Wie sich die rechtsextreme bayerische Gruppierung Voice of Anger im Württembergischen ausbreitet
AICHSTETTEN/SEIBRANZ (saf) Auf einsamen Gehöften im badenwürttembergischen Allgäu, unter anderem in der Nähe von Aichstetten (Landkreis Ravensburg), treffen sich Neonazis der Gruppe Voice of Anger zu Rechtsrock-Konzerten. Eigentlich kommen sie aus dem benachbarten Bayern, doch im Freistaat stehen sie unter scharfer Beobachtung. Experten der Szene befürchten nun, dass sich Voice of Anger langfristig in Baden-Württemberg etablieren möchte.
AICHSTETTEN/SEIBRANZ/KEMPTEN
- Sanft geschwungene grüne Hügel, im Hintergrund ein Nadelwald, dazwischen verstreut eine Handvoll einsam gelegener Höfe: Im württembergischen Stockbauren, zwischen Leutkirch und Memmingen, scheint das Allgäu so ruhig und malerisch, wie es in der Werbung gerne dargestellt wird. Bis das Geräusch eines Chopper-Motorrads die Luft zerfetzt. Im Sattel sitzt ein vermummter Mann mit Wehrmachtshelm auf dem Kopf. Auf seinem schwarzen T-Shirt prangt der Aufdruck „Staatsfeind“.
Er ist auf dem Weg zu einem Gehöft, das noch einsamer liegt als die anderen. Versteckt zwischen Hügeln und Wald, verborgen sogar vor dem Blick der direkten Nachbarn. Seit einiger Zeit gibt es dort verdächtige Umtriebe. „Ich weiß nicht, was das für Leute sind. Die kamen vor etwa zwei Jahren als neue Mieter her, seitdem haben sie sich nie vorgestellt“, erzählt eine Anwohnerin. Düster seien sie und laut mit ihren Motorrädern. Mehr weiß sie nicht, mehr will sie gar nicht wissen. „Man hört ja so einiges heutzutage.“
Zum Beispiel den Lärm eines Konzerts am Samstag zuvor. Eines Neonazi-Konzerts mit dem Motto „Angry, Live and Loud 2“. Rund 170 Besucher kamen dafür nach Stockbauren bei Aichstetten gefahren, auf dem Weg kontrolliert von der Polizei. Veranstalter war die rechtsextreme Gruppierung Voice of Anger aus Bayern. Eigentlich hatte die geplant, das Konzert in Memmingerberg zu veranstalten, dort wurde es aber durch eine Allgemeinverfügung im letzten Moment untersagt. Kurzerhand verlegten die Organisatoren das Konzert zum einsam gelegenen Gehöft nach Stockbauren, innerhalb von Stunden war der Umzug vollbracht. „Da war in kürzester Zeit alles voll mit Polizei und Autos. Ich wusste gar nicht, was los ist. Später habe ich bis weit in die Nacht Lärm gehört, wie ein abgehacktes Schreien“, sagt die Anwohnerin.
Hauptattraktion des Abends ist die finnische Band Mistreat. Eine Gruppe, die mit der amerikanischen White-Power-Ideologie in Verbindung gebracht wird und in ihren Texten unter anderem den Mord an USBürgerrechtler Martin Luther King glorifiziert. Außerdem per Flyer angekündigt: Kommando Skin, die Proissischen Herzbuben und Kotten.
„Ganz klar Nazibands“
„Diese Bands sind nicht nur ein bisschen rechts oder rechtspopulistisch. Das sind ganz klar Nazibands“, sagt Sebastian Lipp. Der freie Journalist sitzt auf der Terrasse eines Kemptener Cafés mit Blick auf die Iller. Auch hier ein Allgäuer Idyll. Ihm gegenüber sitzt sein Kollege Norbert Kelpp. Die beiden recherchieren seit Jahren in der Allgäuer Naziszene. Dass sie darin gut sind, zeigt der eigentlich konspirative Konzertflyer zu „Angry, Live and Loud 2“, den sie auftreiben konnten.
Sie haben verfolgt, wie die Gruppierung Skinheads Allgäu in den 1990er-Jahren verboten wurde, wie danach die White Power Schwaben entstand. Schließlich dann Voice of Anger im Jahr 2002. „Nach unseren Recherchen gibt es da diverse personelle Kontinuitäten, quasi eine Tradition“, sagt Lipp.
Zusammen mit seinem Kollegen gegenüber betreibt er den Internetblog Allgäurechtsaußen, in dem sie Straftaten und Veranstaltungen von Rechtsextremen im Allgäu dokumentieren. Lipp schreibt regelmäßig für Zeit Online, hat für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) gearbeitet, für den Bayerischen Rundfunk und für diverse Tageszeitungen. „Diese Konzerte sind nicht einfach nur eine harmlose Gelegenheit zum Musikhören. Aus einem solchen Milieu heraus ist der NSU entstanden“, sagt er.
Dass keine Straftaten festgestellt wurden, ist für Lipp kein Anlass zur Beschönigung: „Die sind ja unter sich, warum sollten sie untereinander gewalttätig werden? Trotzdem bieten die Konzerte den Raum, die Szene zu schaffen.“Die Trennung von Konzerten und Straftaten, die später aus dem Umfeld heraus begangen werden, halten Lipp und Kelpp deshalb für falsch.
Beide waren am Konzertabend vor Ort in Stockbauren.
Sie haben die Anreise der Besucher dokumentiert, bekannte Gesichter von Voice of Anger entdeckt. Benjamin Einsiedler etwa, Chef des Günzburger Plattenlabels Oldschool Records. Oder den Stuttgarter Szeneanwalt Alexander Heinig, der früher selbst in einer Rechtsrockband gespielt hat.
Das Gelände selbst war tabu. „Die Polizei hat uns gesagt, dass sie auf dem Hof keine Beamten hat. Da wagen wir uns nicht rein“, sagt Norbert Kelpp. Er und Sebastian Lipp sind keine Unbekannten bei den Neonazis, haben bereits handfeste Erfah- rungen mit den Subjekten ihrer Recherchen gemacht. „Das geht vom Schubsen über die Kopfnuss bis zu zertrümmerten Autoscheiben“, erinnert sich Kelpp. Also bleibt es in Stockbauren bei Fotos von den Kontrollen, beim Präsenzzeigen und Dokumentieren von außen.
Hitlergruß beim Konzert
Dass sie dafür über die Grenze ins Württembergische fahren müssen, ist für die beiden Reporter relativ neu. Erstmals mussten sie Bayern im Oktober vergangenen Jahres verlassen, für ein Konzert im oberschwäbischen Seibranz bei Bad Wurzach: „Angry, Live and Loud“die Erste. Unter den Bands befand sich die Gruppe Faustrecht aus Mindelheim. Von einem ihrer Konzerte aus dem Jahr 2007 liegt der „Schwäbischen Zeitung“ein Video des UndercoverJournalisten und Rechtsextremismusexperten Thomas Kuban vor. Darin reckt Sänger Norbert „Nogge“L. den Arm zum Hitlergruß und brüllt dem Publikum „Hail Victory“entgegen, die englische Version von „Sieg Heil“.
Auch in Seibranz zeichnete die Gruppe Voice of Anger verantwortlich. In Bayern wird sie vom Verfassungsschutz beobachtet, der sie als aktive Skinheadgruppierung mit etwa 60 Mitgliedern und Sympathisanten bezeichnet. Die größte Neonazi-Gruppierung in Südbayern. Einzelne Aktivitäten in Baden-Württemberg seien bekannt, sagt ein Sprecher. Eine grundsätzliche Änderung der Ausrichtung sehe die Behörde aktuell allerdings nicht. Die Kollegen in Baden-Württemberg beobachten Voice of Anger nicht, stehen aber in engem Kontakt zu den bayerischen Beamten.
„Es ist natürlich nichts Neues, dass es auch im württembergischen Gebiet Neonazis gibt“, sagt Sebastian Lipp. Dass allerdings Voice of Anger Veranstaltungen im Nachbarbundesland abhalte, sei vor Seibranz noch nicht vorgekommen. „Da könnte sich ein Lerneffekt einschleichen“, befürchtet er. „Wenn Konzerte in Bayern verboten werden und in BadenWürttemberg stattfinden können, sendet das ein Signal: Das hier ist ein Gebiet, in dem wir uns frei bewegen können.“Zumal das Gehöft, auf dem das Konzert in Seibranz stattfand, Polizeiangaben zufolge einem Mitglied von Voice of Anger gehört. Thomas B., ein ehemaliger Mechaniker aus Baden-Württemberg, hat das Anwesen geerbt. Ihn beobachten Lipp und Kelpp seit Jahren bei Treffen von Voice of Anger. In Stockbauren war er ebenfalls. „Seibranz war der erste Schritt. Mit dem zweiten Gehöft in Stockbauren haben sie jetzt noch mehr Möglichkeiten“, sagt Sebastian Lipp.
Gefährliche Lagerfeuerromantik
Dass sich die Gruppierung in BadenWürttemberg etabliert, befürchtet auch der SPD-Landtagsabgeordnete Boris Weirauch, Obmann im Untersuchungsausschuss Rechtsterrorismus/NSU. „Rechtsextremisten interessieren sich nicht für Landesgrenzen und Zuständigkeitsbereiche. Es darf nicht sein, dass ein Rechtsrockkonzert in Bayern verboten wird und dann schnell nach Baden-Württemberg verlegt werden kann.“Es sei bekannt, dass die Lagerfeuerromantik bei den Konzerten Jugendliche an die Szene heranführe. „Mittels Musik haben sich auch die späteren Rechtsterroristen des NSU, Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos, radikalisiert“, führt er aus. Weirauch fordert deshalb eine enge Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz beider Länder. Der Präsident des Bundesverfassungschutzes, HansGeorg Maaßen, zeigte sich bei der Vorstellung des Jahresberichts am 24. Juli ebenfalls besorgt über die Zunahme von rechtsextremen Konzerten. Sie würden genutzt, um „neue Netzwerke herzustellen“.
Im malerischen Stockbauren bei Aichstetten wurden nicht nur die Anwohner überrumpelt vom Neonazi-Konzert. „Die Veranstaltung fand statt, ohne dass vorher irgendetwas darüber bei uns bekannt gewesen wäre. Es wurde keinerlei Genehmigung beantragt“, sagt der Aichstettener Bürgermeister Dietmar Lohmiller. Inzwischen sei man sensibilisiert, was weitere Aktivitäten auf dem Anwesen angehe. Solche Konzerte fielen allerdings, da privat, nicht unter das Veranstaltungsrecht. Sie seien „extrem unangenehm, aber in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat hinzunehmen“. Das Vorgehen in Memmingerberg bezeichnete er als „sportlich“. Er bezweifle, dass es vor Gericht standgehalten hätte. Im Memminger Vorort haben diese Hürden die Verwaltung nicht an einem Verbot gehindert. Begründet wurde die Verfügung, die „Angry, Live and Loud 2“untersagte, mit dem Sicherheitsrecht.
Lipp setzt auf Zivilgesellschaft
In Kempten, 40 Kilometer weiter die Iller entlang, blickt Sebastian Lipp auf den Fluss, in Richtung Landesgrenze. „Bayern zeigt, dass es möglich wäre“, sagt er bestimmt. „Die württembergischen Gemeinden berufen sich darauf, dass sich die Konzerte in der Grauzone zwischen öffentlicher und privater Veranstaltung bewegen. Aber welche private Veranstaltung wird denn mit Flyern beworben?“
Ob privat oder öffentlich: Die Idylle im schönen Allgäu trügt. Spätestens, wenn zwischen Hügeln und Wäldern wieder Neonazi-Gesänge erklingen. Lipp setzt deshalb auf die Zivilgesellschaft: „Die Ausbreitung der Neonazis steht im gesamten Allgäu in keinem Verhältnis zur öffentlichen Wahrnehmung. Jeder sollte deshalb die Augen offen halten.“
„Aus einem solchen Milieu heraus ist der NSU entstanden.“
Sebastian Lipp, freier Journalist, zu Neonazi-Konzerten im Allgäu