Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Das digitale Dilemma
Gerade zum Schulstart fragen sich Eltern: Wann ist der richtige Moment, einem Kind ein Handy zu geben – und gibt es ihn überhaupt?
Das Echo der Tür hallt noch immer durch den Flur, hinter der das kleine Mädchen wutentbrannt verschwunden ist. Die 10jährige Anna, die eigentlich anders heißt, hatte sie zuvor heftig zugeknallt, nachdem sie ihren Eltern folgenden Satz an den Kopf geworfen hat, während sich ihre Augen mit Tränen füllten: „Die Julia hat schon seit der zweiten Klasse ein iPhone. Und ich hab’ gar nichts. Das ist gemein.“Dabei vollzieht sich dieser Tage ihr Schulübertritt in die fünfte Klasse. Für Mama und Papa ist diese Situation nur ein kleiner Teil einer komplizierten Reihe von Fragen: Wann kann ich meinem Kind ein Handy überlassen – oder überlasse ich damit vielmehr dem Handy mein Kind? Liefere es einer Technik aus, die ich selbst nicht richtig beherrsche? Wie viel Umgang mit den digitalen Geräten ist schädlich, noch vertretbar oder gar nützlich? Und: Wäre es nicht überhaupt besser, Kinder von den flimmernden Smartphones und Tablets fernzuhalten, bis sie erwachsen sind?
Für die bislang handylose Anna, die jetzt an ein Gymnasium wechselt, ist die Frage nach dem eigenen Telefon ein existenzielles Problem, denn: Wie sieht das aus, wenn fast alle Schüler in der neuen Jahrgangsstufe ganz selbstverständlich mit dem Smartphone umgehen, das eigene Kind aber mangels elektronischer Mittel von einem Gutteil der digitalen Kommunikation abgeschnitten und damit im Mikrokosmos Klassenzimmer wegen mangelnder Teilhabe gesellschaftlich abgeschlagen ist?
Einfache Antworten gibt es nicht
Eine einfache Antwort auf diese Frage hat auch Steffen Heil von der Auerbach-Stiftung in Tettnang nicht. Zum Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“erscheint der Mann wippenden Schritts und gut gelaunt, aber ohne Smartphone. Allerdings nicht absichtlich: „Ich hab’s im Büro liegen lassen“, sagt der geschäftsführende Vorstand der Stiftung. Gegründet hat sie Tjark Auerbach, der mit der Entwicklung von Antivirensoftware vermögend geworden ist. Sein Unternehmen Avira ist bis heute erfolgreich im Bereich der IT-Sicherheit. Der Gründer wollte mit seiner Stiftung etwas zurückgeben an die Menschen in der realen Welt.
Doch die Grenzen zwischen der digitalen und der analogen Wirklichkeit sind längst fließend oder kaum noch zu erkennen. Denn das Thema Digitalisierung findet nicht irgendwo in einem Paralleluniversum aus Bits und Bytes statt, sondern auch im Kinderzimmer der 10-jährigen Anna, für die der Wunsch nach einem eigenen Handy auch nicht durch die Erfüllung eines anderen und analogen Traums ausgehebelt werden kann, wie die Eltern mit einem Seufzer konstatieren müssen.
Und wie damit umgehen? Steffen Heil sagt: „Wir wollen als Stiftung nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern niederschwellig auf Eltern und Kinder zugehen.“Man müsse sich dem Thema stellen, es aber auch nicht zu hoch hängen. „Besser ist es, einen normalen Umgang mit einfachen Regeln zu finden.“Aber was bedeutet „einfach“in diesem Zusammenhang? Steffen Heil findet zunächst die Leitlinien, die die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) herausgegeben hat, „gar nicht so verkehrt“. Darin ist zu lesen, dass Drei- bis Fünfjährige täglich nicht länger als 30 Minuten mit einem Bildschirmmedium befasst sein sollten, was also alles einschließt, was einen Monitor besitzt – wie etwa Fernseher, Tablets, Computer, Laptops oder Smartphones. In der Altersgruppe zwischen sechs und neun Jahren liegt die Empfehlung bei 45 Minuten, ab zehn bis zwölf Jahren bei einer Stunde.
„Das sind aber alles Maximalangaben“, betont Heil. Niemand müsse auf die Idee kommen, Kinder, die sowieso nicht danach verlangten, ohne Not zum Medienkonsum zu motivieren. Die Auerbach-Stiftung stellt verschiedene Broschüren zur Verfügung, um einen vernünftigen Umgang mit Medien zu erlernen. „Von Verboten halten wir wenig“, sagt Heil. Denn dafür sei die digitale Welt schon viel zu tief in unseren Alltag eingedrungen. „Wir können das nicht mehr aufhalten, aber wir können uns und unsere Kinder darauf vorbereiten“, glaubt Heil und nennt als Beispiel die Einführung des iPhones, auf das die Welt überhaupt nicht vorbereitet gewesen sei. Die Auerbach-Stiftung setzt sich außerdem dafür ein, insbesondere Pädagogen stärker in Medienkompetenz zu schulen, um ein anderes Bewusstsein für Digitales in Klassenzimmern zu ermöglichen, aber: „Längst nicht jeder Lehrer beschäftigt sich überhaupt mit dem Thema.“
Mark Overhage ist Lehrer und Schulleiter noch dazu. Für sein Haus, das Albert-Einstein-Gymnasium in Ravensburg, gelten klare Regeln, was Smartphones angeht: „Ihre Nutzung ist auf dem Schulgelände verboten.“Die Hausordnung erlaubt aber, die Geräte mitzuführen. Ausnahmen sind nur insofern vorgesehen, als dass ein Lehrer das Telefonieren aus triftigen Gründen erlauben kann. „Oder dass er sagt, ,Das könnt ihr jetzt mal googeln’.“Dabei spiele es laut Overhage keine Rolle, ob jemand vielleicht gar kein eigenes Handy besitzt, denn: „In jedem Klassenzimmer gibt es einen Laptop, sodass auch Schüler, die selbst kein Smartphone haben, genauso ins Internet kommen.“
Doch das trifft nur noch auf Einzelfälle zu, denn: „Ab der fünften Klasse haben 80 bis 90 Prozent der Schüler so ein Gerät. Und wenn nicht, dann spätestens bis Weihnachten.“Man müsse das realistisch sehen, sagt Overhage. „Da entsteht schon ein sehr hoher Druck.“Inzwischen sei es so, dass auch auf Elternabenden darüber nicht mehr intensiv diskutiert werde. Die Technik sei in der Lebenswirklichkeit angekommen, kaum jemand stelle sie noch infrage. Warum auch bei Eltern der frühe Gebrauch von mobilen Endgeräten oft positiv gesehen werde, weiß Steffen Heil: „An erster Stelle steht der Sicherheitsgedanke.“Eltern wollen wissen, wo ihre Kinder sind, sie sollen erreichbar sein. „Ein nachvollziehbarer Gedanke – aber dafür würde ein Seniorenhandy ohne Internetfunktion auch ausreichen.“Aber Seniorenhandys an Schulen haben Seltenheitswert. Vielleicht ist ein Teil der Wahrheit, warum das so ist, dass sich Eltern von ihren Kindern fragen lassen müssten, warum sie selbst fast ständig mit dem Smartphone beschäftigt sind.
„Es geht darum, gemeinsam einen vernünftigen Umgang zu finden“, wiederholt Steffen Heil noch einmal. Das könne sich nicht auf die Kinder beschränken. Und darum wendet sich Heils Idee vom „präventiven Handybett“, nicht nur an die Kleinen, sondern auch an die Großen. „Mit dem Handybett wollen wir ein Handy-Schlaf-Ritual in den Familien verankern.“Die Idee dazu kam Steffen Heil nach einem Zoobesuch mit seiner Tochter: Als sich das versprochene Krokodil in seinem Gehege als eher kleinwüchsig und unspektakulär herausstellte, zeigte Heil seiner Tochter ein Internetvideo mit einem monströsen Exemplar. Das Mädchen konnte gar nicht genug davon kriegen, bis Heil schließlich sagte: „Jetzt ist Schluss – das Handy muss auch mal schlafen gehen.“Das sei etwas gewesen, was seine Tochter auch mit unter drei Jahren habe verstehen können.
Handybett hilft beim Abschalten
Heil griff die Idee auf – jetzt ist das aus Pappe leicht zusammenbaubare Handybett ein Renner. Dazu gibt es eine passende App, mit der das Handy zu gegebener Zeit schläfrig wird und sich selbst langsam die virtuelle Bettdecke über den Kopf zieht. Die Stiftung könne die Nachfrage nach dem Handybett im Augenblick gar nicht mehr decken. Auch die Bestellungen der bilderbuchähnlichen Broschüren mit Titeln wie „Einfache Handyregeln – auch für Mama und Papa“oder „Mit dem Handy im Straßenverkehr“gehen in die Zehntausende, wie Heil berichtet. „Das zeigt, wie dieses Thema die Leute bewegt.“
Bewegt haben sich auch die Eltern der kleinen Anna nach langen Diskussionen. Das Mädchen bekommt zum Übertritt in die fünfte Klasse ein Smartphone. Allerdings eines, das „kindersicher“eingestellt ist. Mit dem nicht einfach irgendwelche Dinge unkontrolliert heruntergeladen werden können. Und das ein Zeitlimit besitzt. Und vor allem eines, das zu einer festgelegten Stunde – vor dem gemeinsamen Familienabendessen – schlafen gehen muss. Das Handybett steht schon auf der Küchentheke. Und es hat auch noch genügend Platz für die Smartphones von Mama und Papa.
„Ab der fünften Klasse haben 80 bis 90 Prozent der Schüler so ein Gerät. Und wenn nicht, dann spätestens bis Weihnachten.“Mark Overhage, Schulleiter des Albert-Einstein-Gymnasiums in Ravensburg
Materialien und Informationen für den richtigen und altersgerechten Umgang mit digitalen Geräten stellt nicht nur die Auerbach-Stiftung (www.auerbach-stiftung.de) zur Verfügung, auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) versammelt unter www.kindergesundheit-info.de eine ganze Reihe von nützlichen Tipps und Ratgebern. Ein Interview mit Steffen Heil sehen Sie unter: www.schwäbische.de/heil