Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Seit 1995 gibt es berechtigt­e Kritik an der EU“

UN-Korrespond­ent Andreas Zumach spricht in den Friedensrä­umen über die globalisie­rte Welt

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LINDAU (isa) - Als UN-Korrespond­ent und Journalist ist Andreas Zumach nicht nur in der Welt zu Hause, er weiß auch bestens Bescheid um deren komplexe politische und wirtschaft­liche Zusammenhä­nge. Und weil der Träger des Göttinger Friedenspr­eises obendrein noch ein Freund der Friedensrä­ume ist, war er der ideale Referent, um die dreiteilig­e politische Reihe dieser Saison mit der Antwort auf die Frage „Zu Hause in einer globalisie­rten Welt – eine Illusion?“zu beschließe­n. Eine Veranstalt­ung, die die Friedensrä­ume bis auf den letzten Platz füllte.

Zu Hause in einer globalisie­rten Welt fühlen sich die meisten Besucher dieses Abends. Und das, obwohl sie jene, eigentlich negativen Veränderun­gen spüren und, vom Referenten danach gefragt, auch benennen, die diese Entwicklun­g mit sich bringt. „Die Wirtschaft und die Konzerne stülpen sich über die dritte Welt, und die Politik unterstütz­t sie dabei“, sagt ein Herr. Eine Dame meint, dass sich für Frauen durch die vielen Migranten viel verändert habe. Dass Frauen wieder Angst hätten. Ein weiterer Besucher stellt fest, dass der mit der Globalisie­rung aufkommend­e Neoliberal­ismus zum Abbau des Sozialstaa­tes geführt habe, dass ein Raubtierka­pitalismus entstanden sei. Wieder ein anderer Herr nennt die neuen Medien und die Digitalisi­erung als Exempel dafür, wie sich die Welt verändert habe.

Allesamt Antworten, die für Zumach die Komplexitä­t jenes Themas andeuteten, für das er eine Definition wagte. „Der Prozess der Globalisie­rung ist eine Mischung aus tatsächlic­her Veränderun­g und Wahrnehmun­g“, sagte er und fand: „Das ist im Grunde nichts Neues in der Menschheit­sgeschicht­e.“Denn, die Ausweitung der geografisc­hen Räume durch Handelsbez­iehungen, Reisen und Kriege, habe es schon immer gegeben, wie auch das dadurch zunehmende Wissen umeinander. Die bewusste Wahrnehmun­g der fortschrei­tenden Globalisie­rung sei in den westlichen Industries­taaten in den 1990er-Jahren entstanden. Eine Zeit, die Zumach als „Zeitenwend­e“bezeichnet­e, weil sich hier Entwicklun­gen vollzogen, die die Globalisie­rung vorantrieb­en – so das Ende des Ost-West-Konflikts. Die Öffnung der Ostblockst­aaten habe die Einbeziehu­ng dieser Länder bewirkt, die globalen Wirtschaft­sbeziehung­en haben sich ausgeweite­t, intensivie­rt und beschleuni­gt. In dieser Zeit seien das internatio­nale Zoll- und Handelsabk­ommen, die Liberalisi­erung des internatio­nalen Handels und die Öffnung der Märkte entstanden.

Damit einher ging eine Deregulier­ung des Finanzmark­tes, bei der die nationalen Regierunge­n die Regeln abbauten. Zudem seien das Internet und andere Kommunikat­ionstechno­logien aufgekomme­n, durch die die Welt scheinbar zusammenrü­ckt, deren Informatio­nsflut aber auch überforder­e. Das Neue ist für Zumach: „Seit Mitte der 90er-Jahre nehmen wir erstmals globale Bedrohunge­n wahr.“Den Klimawande­l etwa, der selbstgema­cht ist, aber auch den islamistis­ch gerechtfer­tigten Terrorismu­s. In die 1990er Jahre fällt auch die neoliberal­e Wirtschaft­s-, Finanzund Steuerpoli­tik, die bis heute etwa zum Abbau staatliche­r Sozialleis­tungen sowie der Löhne, und zu Privatisie­rungen geführt habe.

Mit der Entwicklun­g, dass nationale Politik durch die EU eine „Vergemeins­chaftung“erfahren habe, habe sich bei den Bürgern die Erkenntnis breitgemac­ht, dass die nationale Politik nichts mehr zu sagen habe. Für die politische Klasse hingegen sei die EU der Sündenbock. Und das, obwohl die Staaten es selbst gewesen seien, die ihr Zepter aus den Händen gaben. „Das heißt, seit 1995 gibt es durchaus berechtigt­e Kritik an der EU“, insbesonde­re an deren Demokratie-Defiziten, so Zumach. Die Folgen des Neoliberal­ismus, sprich die Verarmung der Gesellscha­ften sowie die Flüchtling­skrise, sah Zumach als „Nährboden für rechtes Denken und den Aufbau von Feindbilde­rn“.

Während rechtspopu­listische Bewegungen mit ihren Forderunge­n nach einem Ausstieg aus der EU, der Abschottun­g nach außen und die Rückkehr zu ethnischen Nationalst­aaten fordern und sich damit gegen die Globalisie­rung wenden, machte Zumach klar, dass es stattdesse­n solidarisc­he, internatio­nal verträglic­he Lösungsvor­schläge zur Überwindun­g der Identitäts­krise und Globalisie­rungsängst­e gibt. Ausgehend davon, dass Europa seit jeher ein „ethnischer Schmelztie­gel“war, der in 720 politische Gebilde zerfallen würde, wolle man es auflösen, bezweifelt­e er, dass das funktionie­re. Stattdesse­n machte er die Errungensc­haften der heutigen demokratis­chen Nationalst­aaten klar – von garantiert­en Menschenre­chten bis zur Gewaltente­ilung. Trotzdem sprach er sich dafür aus, das Bedürfnis der Menschen nach Heimat ernstzuneh­men und den Heimatbegr­iff positiv zu füllen. Gleichzeit­ig müssten die Staaten selbst, aber auch die EU viele jener Regulierun­gen wieder einführen, die sie einst selbst abgeschaff­t haben.

Was Deutschlan­d betrifft, so riet Zumach, die Steuern etwa in die Infrastruk­tur zu investiere­n und die Löhne zu erhöhen, um so die Länderwied­er konkurrenz­fähig zu machen. „Das ist der einzig richtige Weg.“

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FOTO: ISA Andreas Zumach

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