Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Wut auf Russland
Nach einem Seegefecht schieben sich Russland und Ukraine gegenseitig die Schuld zu
Ukrainische Aktivisten demonstrieren am Montag in Kiew gegen die Politik Russlands (Foto: dpa). Der Grund: Russische Schiffe hatten am Sonntag vor der Halbinsel Krim, die Moskau 2014 völkerrechtswidrig annektiert hat, ukrainische Schiffe mit Waffeneinsatz geentert. Wütend ist jedoch nicht nur die Jugend, auch Staatschef Petro Poroschenko ist sauer: Er verhängte für 30 Tage das Kriegsrecht.
MOSKAU - Nach einem Seegefecht zwischen russischen und ukrainischen Booten in der Meerenge von Kertsch vor der annektierten Halbinsel Krim sind die Beziehungen beider Konfliktparteien angespannt. Russland und die Ukraine beschuldigen sich gegenseitig der Eskalation – könnten laut Experten jedoch politisch auch davon profitieren.
Die russischen Boote rammten den ukrainischen Schlepper Jany Kapu, beschossen die beiden Schnellboote Berdjansk und Nikopol und kaperten alle drei Gefährte. Nach ukrainischen Angaben wurden drei Besatzungsmitglieder verletzt und 23 gefangen genommen. Ihr Verband war auf dem Weg vom Schwarzen ins Asowsche Meer. Zuvor blockierte die russische Seite die Durchfahrt unter der Brücke von Kertsch, die die annektierte Krim und das russische Festland verbindet, mit einem quergestellten Tanker. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB begründete die Blockade mit einer Grenzverletzung. Kiew bestreitet dies.
Nach russischer Ansicht trägt die Ukraine die Verantwortung für die Eskalation. „Es handelt sich um eine sehr gefährliche Provokation, die besonderer Aufmerksamkeit und Klärung bedarf“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag. Auch Außenminister Sergei Lawrow sprach von einer „eindeutigen Provokation“. Die Ukraine hätte gegen internationales Recht verstoßen. „Wir fordern die westlichen Sponsoren Kiews in aller Schärfe auf, die zur Räson zu bringen, die jetzt versuchen, mit kriegerischer Hysterie politische Punkte bei den kommenden Wahlen in der Ukraine zu sammeln.“
Umstrittene Argumente
Russland berief eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates ein. Allerdings sind seine Argumente völkerrechtlich strittig. Nach Angaben aus Moskau verletzten die ukrainischen Schiffe, die aus Odessa kamen, schon auf der Fahrt durch das Schwarze Meer die russische Zwölf-Meilen-Zone vor der Küste der Krim. Jedoch erkennen weder die Ukraine noch die Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten den Anschluss der Halbinsel durch Russland an, also auch nicht den Anspruch auf die Hoheit über die Ufergewässer. Zudem haben beide Länder 2003 einen Vertrag über die gemeinsame Nutzung des Asowschen Meers unterzeichnet. Auch die Moskauer Zeitung „Kommersant“konstatiert, dass die ukrainischen Schiffe ungehinderten Zugang ins Asowsche Meer gehabt hätten müssen.
„Und selbst vom Standpunkt Russlands aus gesehen ist die Gewalt, die seine Seestreitkräfte gegen unsere Schiffe angewendet haben, absolut unverhältnismäßig“, sagt Oleksiy Melnyk, Sicherheitsexperte des Kiewer Rasumkow-Zentrums. Nach Darstellung der ukrainischen Marine hatten die drei Schiffe die russischen Behörden von ihrer Absicht informiert, in das Asowsche Meer einzulaufen.
Poroschenko fordert Freilassung
Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko forderte Russland am Montag auf, die gefangenen Seeleute und ihre Schiffe unverzüglich freizugeben. Außerdem beantragte er im Parlament die Ausrufung des Kriegsrechtes. Zuvor war die Armee in Alarmbereitschaft versetzt worden. Außenminister Pawlo Klimkin erklärte, die Ukraine werde eine diplomatische Lösung des Konfliktes im Asowschen Meer anstreben. „Aber sie behält sich unbedingt das Recht auf Selbstverteidigung vor.“
Im März hatte die Ukraine einen russischen Fischkutter aus Kertsch aufgebracht, dessen Mannschaft russische – also nach Ansicht der ukrainischen Behörden illegale – Pässe besaß. Danach begann die russische Küstenwache im Asowschen Meer Frachter anzuhalten, die ukrainische Häfen ansteuerten. Und kontrollierte sie oft tagelang. Umgekehrt halten die Ukrainer zurzeit 15 Schiffe fest, die ohne ukrainische Erlaubnis Häfen auf der Krim anliefen. „Das strategische Ziel Russlands ist es, die Ukraine weiter zu destabilisieren“, sagt Sicherheitsexperte Melnyk. Auch sei ein kleiner, siegreicher Seekrieg gut geeignet, um die sinkende Popularität des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu stabilisieren. Nach einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungszentrums heißen 33 Prozent der Russen dessen Politik nicht mehr gut, die höchste Ablehnung seit dem Krim-Anschluss.
Aber nicht nur russische Beobachter verweisen darauf, dass die Eskalation auch Putins Amtskollegen Poroschenko nützt. Vier Monate vor den Präsidentschaftswahlen Ende März hängt seine Popularitätsrate bei 10,3 Prozent. „Zwei Monate Kriegsrecht erlauben es dem Präsidenten, die Wahlen um einen Monat zu verschieben“, sagt Melnyk. „Aber egal, ob Poroschenko Präsident bleibt oder nicht, es wird kein Politiker an die Macht kommen, der mit diesem Russland befreundet sein will.“