Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Wenn alles weh tut
Hilfreiche Therapien jenseits von Tabletten und Spritzen – Ein Blick in die Arbeit eines Schmerzzentrums
GÖPPINGEN/MÜNCHEN - Schon das Durchlesen tut weh. Auf der Homepage des Schmerz- und Palliativzentrums Göppingen steht aufgelistet, mit welchen Leiden Patienten hier auf Hilfe hoffen dürfen. Mit Gesichtsschmerz zum Beispiel, auch Trigeminusneuralgie genannt. Mit Rheuma, Gürtelrose, Spastiken, Rückenund Gliederpein, allen Formen von Migräne und Kopfweh. Mit Krebs oder somatoformen Schmerzsyndromen. Was bedeutet, dass einer quälenden Schmerz im Körper hat, ohne dass sich dafür organische Ursachen finden lassen. Das klingt nicht nur nach einem Alptraum. Es ist auch einer. Schmerz kann Leben zerstören.
23 Millionen Deutsche leiden unter chronischem Schmerz
23 Millionen Menschen in Deutschland leben mit chronischen Schmerzen, meldet die Deutsche Schmerzgesellschaft. 2,8 Millionen von ihnen seien so schwer betroffen, dass ihr ganzes Leben auseinanderbricht, samt Arbeitslosigkeit und Trennungen. Weil jeder Augenblick des Alltags von Höllenqualen bestimmt ist. Und keine Zeit mehr für anderes bleibt.
Vielfach könnte früher geholfen werden, ist sich der Allgemeinmediziner Gerhard Müller-Schwefe, Leiter des Schmerz- und Palliativzentrums Göppingen, sicher. „Doch unser Versorgungssystem hat den Schmerz ausgeblendet. Für viele Ärzte ist er ein Symptom und keine Krankheit.“Für ihn ist das Thema zu einer Lebensaufgabe geworden. „Dass man Schmerzen überhaupt nicht lindern kann“, sagt er, „das gibt es nicht.“
Doch in der Therapie ist Eile geboten. Chronische Schmerzen beginnen innerhalb weniger Wochen, das Nervensystem dauerhaft umzubauen. Jene Hirnregionen, die die Schmerzwahrnehmung aus den betroffenen Organen verarbeiten, wachsen. Die körpereigene Schmerzhemmung, das Opiat-System, ist nicht mehr in der Lage, den Daueralarm der Nerven wirkungsvoll zu dämpfen. Wer länger als drei Monate unter Schmerzen leidet – etwa an oft wiederkehrenden Kopfschmerzen oder einem Hexenschuss – läuft Gefahr, ein chronisches Schmerzsyndrom zu entwickeln, erklärt Müller-Schwefe. In solchen Fällen gelte es, keine Zeit zu verlieren und einen Experten aufzusuchen. Gute Anlaufstellen seien Mediziner mit der Zusatzausbildung „Spezielle Schmerztherapie“. Oder spezialisierte Schmerzzentren, wie das in Göppingen. Dort arbeiten Ärzte fachübergreifend mit Kliniken und Psychologen zusammen, um akute und chronische Schmerzzustände zu therapieren.
Patienten aus ganz Europa und sogar aus den USA
23 Untersuchungsräume stehen dafür in Göppingen zur Verfügung: Mit 300 Patienten wöchentlich ist es eines der großen ambulanten Schmerzzentren Deutschlands. Die Patienten kommen aus ganz Europa und sogar aus den USA. Bevor sie den Weg hierher finden, haben sie Müller-Schwefe zufolge im Schnitt zwölf Ärzte konsultiert. Und das über die Dauer von gut zehn Jahren.
Um das größte Leid zu verringern, werden in Göppingen Krebspatienten oder Menschen mit ClusterKopfschmerzen und Trigeminusneuralgien – zwei besonders qualvollen Erkrankungen im Gesichtsbereich – bevorzugt behandelt. Auch Patienten mit akuter Gürtelrose bekommen sofort einen Termin. Ansonsten seien Wartezeiten von sechs bis acht Wochen üblich. Die Terminvergabe erfolgt telefonisch und ist auch ohne Überweisung möglich.
In Vorbereitung auf das Erstgespräch sendet die Klinik einen Fragebogen zu, dessen Antworten zur Vorbereitung dienen auf das AnamneseGespräch, das bis zu zwei Stunden dauert. Müller-Schwefe und seine Kollegen wollen viel wissen: über den Schmerz, aber auch über das Alltagsleben ihrer Patienten.
Was machen sie in ihrer Freizeit? Gibt es einen Lebenspartner? Wie geht der mit dem Schmerzthema um? Welche Vorbefunde gibt es? An das Erstgespräch schließt sich eine umfangreiche körperliche Untersuchung an. Danach wird der Therapieplan erörtert.
Am Anfang sind meist zwei bis drei Behandlungen vor Ort nötig, danach ziehen sich die Termine auseinander. Wer von weither anreist, dem empfiehlt die Klinik für die ersten ein bis zwei Wochen ein günstiges Hotel in der Nähe. Manchmal versucht sie für die weitere Behandlung auch, geeignete Therapeuten in der Wohnortnähe des Patienten zu finden.
Als Königsweg in der Behandlung gilt heute die multimodale Schmerztherapie, die mehrere Disziplinen verbindet. In der Regel sind das Schmerzspezialist, Physio- und Psychotherapeut. Gemeinsam entwickeln sie einen Therapieplan mit dem Ziel, den Teufelskreis Schmerz zu unterbrechen. In der Folge soll das Nervensystem in kleinen Schritten seine Übererregbarkeit verlernen. Schmerzmittel spielen in der Therapie eine untergeordnete Rolle. Die schmerztherapeutischen Verfahren reichen von Akupunktur – etwa bei Kniearthrose – über Botox bei Migräne bis zu Stoßwellen bei Rückenschmerzen oder Verhaltenstherapie, um den Teufelskreis aus Stress und Schmerz zu durchstoßen.
Streit über die Wirksamkeit der Methoden
Zu Müller-Schwefes Therapiekoffer gehören auch Behandlungen, bei denen die Studienlage unklar ist – zum Beispiel Akupunktur oder Biofeedback. Bei letzterem lernen Schmerzpatienten mithilfe von technischen Geräten ihre unbewussten Körpervorgänge kennen und Verspannungen der Muskulatur zu mildern. Der medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen sieht in der Methode keinen erkennbaren Nutzen. Müller-Schwefe hat andere Erfahrungen gemacht: „Bei Spannungskopfschmerz ist es eine gute Methode, weil Patienten mit Biofeedback erst wahrnehmen, wie verspannt sie sind.“
Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS), mit rund 4000 Mitgliedern die größte Gesellschaft praktisch tätiger Schmerztherapeuten in Europa, wird deshalb nicht müde, das Modell der Schmerzzentren zu loben und mehr davon zu fordern. „Patienten mit chronischen Schmerzen benötigen eine intensive, spezialisierte und durch verschiedene Disziplinen aufeinander abgestimmte Behandlung“, heißt es in einem Maßnahmenkatalog, der auf dem Nationalen Versorgungsforum Schmerz verabschiedet wurde.