Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Arbeiterrat beschlagnahmte Kohlenzug
Novemberrevolution 1918 und Räterepublik 1919 in Lindau
LINDAU - Nachdem in Lindau am 9. November, in Lindenberg am 13. November, in Weiler am 8. Dezember 1918 Arbeiter- und Soldatenräte sowie am 19. November in Wombrechts ein Bezirksbauernrat für den Landkreis gewählt worden waren, nahmen diese umgehend ihre Arbeit auf.
Bei ihrem Allgäutreffen am 21. November 1918 erklärten die Rätevertreter von Lindau bis Memmingen ihr Selbstverständnis so, dass sie ab nun die ausübende Gewalt innehaben und als Kontrollorgane über den örtlichen und regionalen Verwaltungen ständen. Dies wurde in Bayerns Revolutionsregierung von Ministerpräsident Kurt Eisner (USPD) unterstützt, von seinem Stellvertreter und Innenminister Erhard Auer (SPD) aber verneint.
Unter dem Druck der Rätebewegung beschloss der Lindauer Magistrat (heute der Stadtrat) nun für alle städtischen Betriebe außer dem Elektrizitätswerk die Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages. Ab 1. Dezember erhielten auch die Druckereiarbeiter und ab 1. Januar 1919 die Arbeiterinnen und Arbeiter der Milchfabrik Rickenbach (heute Dornier Lindau) den auf acht Stunden verkürzten Arbeitstag. Bereits am 13. November hatte der Arbeiter- und Soldatenrat Lindau beschlossen, den Schwerstarbeitern in der Stadt die ihnen bisher erst zum Monatsende zustehenden staatlichen Lebensmittelzulagen sofort auszahlen zu lassen.
Die Lindenberger Räte erreichten bereits mit dem 18. November 1918, dass die tägliche Arbeitszeit in allen Betrieben in der Stadt von zehn auf acht Stunden verkürzt wurde, bei voller Weiterbezahlung der bisherigen Löhne. Außerdem sollten die Löhne der Akkordarbeiterinnen, Näherinnen und Garniererinnen der örtlichen Strohhutindustrie dem höheren Tarif der männlichen Lohnarbeiter vom 1. Oktober 1918 angepasst werden.
Schnell rückten jedoch gelegentliche anfängliche linke Rätehoffnungen, von nun an die größeren Betriebe und die Verwaltung sozialisieren zu können, bedingt durch die vom Weltkrieg hinterlassene extreme Mangelsituation bei Lebensmitteln, Wohnungen, Gesundheit und Heizmaterial in den Hintergrund. Lindaus Bürgermeister Heinrich Schützinger notierte beispielsweise am 7. Dezember 1918 unter anderem: „Was die Volksernährung anbelangt, so habe ich unendlich große Sorge wegen der Mehllieferung. Trotz aller Bemühungen gelingt es uns nicht, uns mehr als auf eine Woche einzustellen. Da die Kartoffelzufuhr ganz aufgehört hat.“
Zusätzlich forderte die ebenfalls aus der Kriegszeit herrührende europäische Grippe-Pandemie weiterhin Todesopfer. Die Räte versuchten derweil bei der Verwaltung der Mangelsituation, wenn auch improvisierend, die soziale Gerechtigkeit zu ihrem Maßstab zu machen.
Auf seiner Sitzung vom 13. November gab der Lindauer Arbeiterund Soldatenrat bekannt, dass er mit der Kontrolle der Ausgaben und Einnahmen in den öffentlichen Haushalten begonnen habe. Außerdem habe er eine für Innsbruck bestimmte Eisenbahnkohlenladung beschlagnahmen lassen, um diese in Lindau zu verteilen. Bezahlt werden sollten die Kohlen vom städtischen Gaswerk, welches auch von den beschlagnahmten Kohlen mit profitiere. Die in die Schweiz fahrenden Züge würden ab nun kontrolliert, unter anderem um „die Verschleppung deutschen Vermögens und von Nahrungsmitteln ins Ausland“zu unterbinden.
Der Lindauer Soldatenrat beschloss, dass das bisher vorzugsweise mit Lebensmitteln und Heizmaterial versorgte Lindauer Offizierskasino zukünftig als Privatbetrieb zu betrachten und entsprechend zu beliefern sei. Die Lindauer Standortschlachterei wurde zunächst der Kontrolle einer Kommission des Soldatenrates unterstellt und am 15. März 1919 zugunsten der örtlichen Metzgereien ganz geschlossen. Um den Schleichhandel zu unterbinden, wurden durch Mitglieder des Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrates Lindau immer wieder die Lagerräume von Geschäftsleuten überprüft. Unter anderem dafür wurde ein Lebensmittelund Wohnungsausschuss mit Kontrollrecht gegründet und dessen Mitgliedern entsprechende Ausweise ausgehändigt. Beispielsweise konnte am 22. März 1919 bekannt gegeben werden, dass auf dem Bahnhof des benachbarten Wasserburg/Bodensee 30 Pfund Käse beschlagnahmt worden waren, in Hengnau 14 Pfund Käse und in Lindau neun Pfund Käse sowie elf Pfund Butter, die an die Bevölkerung abgegeben würden.
Gegen die anwachsende Wohnungsnot stellte der Arbeiter- und Soldatenrat am 5. Februar 1919 auf der Sitzung des Stadtmagistrats erfolgreich den Antrag, dass besagter Ausschuss den Bestand leerstehender Wohnungen erheben und die Vermietung dieser Räume veranlassen könne. Auch solle der Neubau eines weiteren Kinos so lange verschoben werden, bis die Wohnungsnot behoben sei. Außerdem schrieb er Mitte Februar einen Antrag an das Militärministerium in München, dass der Stadt Lindau die bisherige Maxkaserne für den Umbau in Wohnungen überlassen werde.
„Die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg vor 100 Jahren“: Klaus Gietinger, Soziologe, Regisseur und Autor aus Lindenberg, liest aus seinem Buch im Lindauer Landgasthof Köchlin am 4. Januar ab 20 Uhr im Jägerzimmer.