Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Von wegen Rückbesinnung
Wozu braucht es eigentlich noch die SPD? Es ist eine Frage, die führende Sozialdemokraten vor allem mit salbungsvollen Sätzen über die Vergangenheit beantworten: über den Kampf für Arbeitnehmerrechte, über den Widerstand gegen die Nazis. Darauf kann die SPD stolz sein, ohne Frage – doch der ständige Blick zurück ist eines der größten Probleme der Partei. Was der SPD momentan am meisten fehlt, ist eine Vision für die Zukunft.
Die SPD müsse sich „rückbesinnen“auf alte Wählerschichten, sagen einige rote Nostalgiker. Das ist falsch. Die alten SPD-Milieus gibt es entweder nicht mehr – oder sie haben sich drastisch verändert. In deutschen Industriebetrieben arbeiten kaum mehr ausgebeutete Proletarier – sondern mehrheitlich gut verdienende Facharbeiter und Ingenieure.
Eines ist aber so aktuell wie vor Jahrzehnten: Die Sehnsucht vieler Menschen nach mehr Gerechtigkeit und Respekt. Diese Sehnsucht haben Angestellte in der Alten- und Krankenpflege, die sich für lächerlich niedrige Löhne um die Schwächsten in der Gesellschaft kümmern. Die Paketboten haben sie, die für sittenwidrige Stundensätze der restlichen Bevölkerung das Shopping vom Sofa aus ermöglichen. Gerechtigkeit fordern aber auch Unternehmer, die Steuern und Sozialbeiträge in voller Höhe bezahlen und ihre Mitarbeiter fair entlohnen – und die benachteiligt sind gegenüber Konkurrenten, die mit legalen wie illegalen Steuertricks die Allgemeinheit betrügen.
Was die SPD zu Beginn dieses Jahres tut, sind Schritte in die richtige Richtung: das Starke-Familien-Gesetz, das die SPD-Minister Franziska Giffey und Hubertus Heil jetzt auf den Weg gebracht haben; der Vorstoß von Parteichefin Andrea Nahles, die Grundsicherung für Kinder zu bündeln. Beides können erste Antworten sein auf die Frage, was die SPD-Kernthemen Gerechtigkeit und Respekt heute und künftig bedeuten. Wenn die SPD darauf weitere vernünftige Antworten entwickelt, kann sie irgendwann wieder eine echte Volkspartei werden. Wenn sie sich in der Nostalgie verliert, wird sie zur Zwergpartei.