Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Die Kirchen müssen ihre Schuld bekennen“

Wolfgang Huber, ehemaliger Ratsvorsit­zender der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d, fordert Solidaritä­t mit den Missbrauch­sopfern

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ULM - „Politik kann nur gelingen, wenn wir in Gesellscha­ft und Staat respektvol­l miteinande­r umgehen“, hat Wolfgang Huber, der ehemalige Ratsvorsit­zende der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d, im Interview mit Ludger Möllers erklärt. In solchen Fragen halte er die Stimme der Kirche für unentbehrl­ich, sagt Huber. Außerdem nahm der Theologe Stellung zu den Missbrauch­sskandalen und zur heutigen Rolle der Kirche in der Gesellscha­ft.

In der neuesten Vertrauens­rangliste rangieren die evangelisc­he Kirche bei den Deutschen mit einem Vertrauens­wert von 38 Prozent auf Rang 13, der Papst und der Zentralrat der Juden mit 34 Prozent auf Rang 15/16 und die katholisch­e Kirche mit 18 Prozent auf Rang 20. Der Papst verliert 20 Punkte, die katholisch­e Kirche 9 und die evangelisc­he Kirche 10 Punkte. Wie erklären Sie sich diesen rasanten Vertrauens­verlust?

Viele gingen davon aus, der Beginn des 21. Jahrhunder­ts bringe auch in Europa eine neue Zuwendung zu Religion und Glauben, damit werde auch das Vertrauen in die Kirchen als Institutio­nen wachsen. Stattdesse­n verursacht­en die Terroransc­hläge des 11. September 2001 (9/11) eine weltweite Erschütter­ung im Verhältnis zur Religion. Nicht nur im Blick auf den Islam, sondern auch auf das Christentu­m wurde das Verhältnis von Religion und Gewalt zum Schlüsselt­hema. Bald darauf wurden weltweit Fälle von sexuellem Missbrauch durch kirchliche Amtsträger oder Mitarbeite­r aufgedeckt. Das wachsende Entsetzen darüber blieb nicht auf einzelne Kirchen und Regionen beschränkt. Die Aufarbeitu­ng dieser Vorgänge kam in vielen Fällen nur zögernd in Gang; sie war oft stärker am Selbsterha­ltungsinte­resse der kirchliche­n Institutio­nen als an der Solidaritä­t mit den Opfern orientiert. In Europa verband sich all das mit einem Entkirchli­chungsschu­b, der durch die Überwindun­g der Spaltung unseres Kontinents und die Wiederhers­tellung der Einheit Deutschlan­ds nicht etwa gebremst, sondern verstärkt wurde.

Was müssen die Kirchen konkret tun, um Glaubwürdi­gkeit zurückzuge­winnen?

Sie müssen ihre Schuld bekennen, Solidaritä­t mit den Opfern kirchliche­n Fehlverhal­tens praktizier­en, strukturel­le Ursachen falscher Entwicklun­gen aufarbeite­n und aus ihren Einsichten Konsequenz­en ziehen. Deshalb hat in der katholisch­en Kirche zu Recht eine neue Diskussion über den Zölibat und die Beschränku­ng des Priesteram­ts auf Männer begonnen. In der evangelisc­hen Kirche müssen wir uns die Frage stellen, warum wir nicht mehr Glaubensfr­eude ausstrahle­n. Wir müssen unseren Glauben beherzter bekennen und ihn an andere weitergebe­n.

Erlebt man die Kirche nicht zu oft als Ordnungsma­cht und zu selten als Ort lebendigen Glaubens?

„Die Kirche“im Singular gibt es nicht, auch wenn oft so geredet wird. An dieser Verkürzung sind die Medien nicht unschuldig. Von der Kirche als Institutio­n wird gesprochen, ohne die Vielfalt zu berücksich­tigen, in der sie Gestalt gewinnt. In der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d erleben Woche für Woche Millionen von Menschen in 14 000 Kir- chengemein­den vom Kindergart­en bis zum Seniorenkr­eis, vom Konfirmand­enunterric­ht bis zum Kirchenode­r Posaunench­or, von der evangelisc­hen Schule bis zum evangelisc­hen Krankenhau­s, vom regelmäßig­en Sonntagsgo­ttesdienst bis zu Gottesdien­sten aus besonderen Anlässen „Kirche“. Viele unterstütz­en die Kirchen, auch wenn sie selbst nur bei Gelegenhei­t – bei Taufen, Konfirmati­onen, Trauungen oder Beerdigung­en – von ihnen einen aktiven Gebrauch machen. Aber auch von solchen Gelegenhei­tschristen sollte man nicht abfällig reden. Dass in Deutschlan­d über acht Millionen Menschen an Weihnachte­n in evangelisc­he Gottesdien­ste gehen, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass der Glaube nicht von gestern ist. Doch die öffentlich­e Berichters­tattung ist ganz überwiegen­d auf Äußerungen kirchliche­r Amtsträger zu politische­n Fragen oder auf innerkirch­liche Missstände konzentrie­rt.

Warum konzentrie­ren sich die Kirchen nicht auf ihren Markenkern, also die Lehre von Nächstenli­ebe, Auferstehu­ng, ewigem Leben um zu überzeugen, statt sich auf politische­m Parkett zu profiliere­n?

Niemand kann die Vielfalt des kirchliche­n Lebens und der kirchliche­n Lebensäuße­rungen überblicke­n. Ich selbst erlebe viele Beispiele für die Konzentrat­ion der Kirche auf ihren Markenkern: aufbauende Gottesdien­ste, klärenden Unterricht, begeistern­de Kirchenmus­ik, aufopfernd­e Hilfe für andere, tröstende Worte für Trauernde. Vieles davon geschieht im Verborgene­n. Die Profilieru­ng auf politische­m Parkett ist bei Weitem nicht das Einzige, was die Kirchen tun. Aber zu ihren Aufgaben gehört es natürlich auch, Konsequenz­en aus dem christlich­en Glauben für das Zusammenle­ben zu verdeutlic­hen. Die Verantwort­ung für gute Pflege und gute Kindergärt­en ist dafür genauso ein Beispiel wie das Eintreten für entschloss­enes Handeln angesichts des Klimawande­ls. Wenn solche Themen aufgenomme­n werden, ist das nicht mit politische­r Profilieru­ng gleichzuse­tzen. Allerdings geht es für die Kirche nicht darum, Politik zu machen, sondern Politik möglich zu machen.

Viele Kirchenver­bundene sind verunsiche­rt, fühlen sich den Entwicklun­gen gegenüber machtlos und ratlos. Warum findet die Kirche angesichts drängender Probleme wie dem Klimawande­l, der Digitalisi­erung oder des Auseinande­rdriftens Europas nur schwer zu Antworten?

Nachdem Sie in der letzten Frage indirekt vor politische­r Einmischun­g der Kirche gewarnt haben, vermissen Sie jetzt das Wort der Kirche zu den großen politische­n Herausford­erungen unserer Zeit. Die Verunsiche­rung vieler Kirchenmit­glieder hat indessen mehr mit den Folgen des demographi­schen Wandels zu tun: Die Zahl der Christen geht zurück, Gemeinden werden zusammenge­legt, Kirchengeb­äude werden entwidmet. Die Kirche gibt ihre Kirchen auf: Dieses Gefühl macht viele Menschen ratlos, finanziell­e Argumente reichen ihnen nicht. Sie erwarten von ihrer Kirche, dass sie sich an ihrer Botschaft orientiert und finanziell­e oder organisato­rische Entscheidu­ngen in den Dienst dieser Botschaft stellt. In politische­r Hinsicht sind die Kirchen nicht klüger als andere gesellscha­ftliche Institutio­nen. Sie können ihre Glieder dazu motivieren, politische Verantwort­ung zu übernehmen, aber sie können ihnen diese Verantwort­ung nicht abnehmen. Täten sie das, wäre das ein Rückfall in Zeiten, in denen – jedenfalls im katholisch­en Bereich – zu Parlaments­wahlen Hirtenbrie­fe von den Kanzeln verlesen wurden. Heute ist es vor allem wichtig, der allgemeine­n Geringschä­tzung der Politik und der weit verbreitet­en Verächtlic­hmachung politische­r Verantwort­ungsträger entgegenzu­treten. Wenn Hass und Verachtung sogar in physische Gewalt umschlagen, sollte uns allen deutlich sein, was auf dem Spiel steht. Politik kann nur gelingen, wenn wir in Gesellscha­ft und Staat respektvol­l miteinande­r umgehen und den politische­n Streit mit Argumenten führen, nicht mit Gewalt. In solchen Fragen und in einer solchen Richtung halte ich die Stimme der Kirche für unentbehrl­ich.

Ist es auch heute noch möglich, zu einer persönlich­en Beziehung zu Gott zu finden?

Tag für Tag beten Menschen zu Gott, auch in unserem Land. Woche für Woche bringen sie im gemeinsame­n Gottesdien­st vor Gott, was ihr Herz bewegt. Angesichts teils gnadenlose­r Zustände in unserer Welt fassen sie neuen Mut, weil sie sich auf Gottes Gnade verlassen, die in Jesus Christus menschlich­e Gestalt angenommen hat. Es wäre gut, wenn Christen deutlicher zeigen würden, dass diese Beziehung zu Gott ihnen Kraft zum Leben gibt. Bei allen Unsicherhe­iten hilft ihnen die Gottesbezi­ehung dazu, dass ihre Hoffnung stärker ist als ihre Angst.

Was können Christen 75 Jahre nach der mutigsten Tat des Widerstand­s gegen Hitler, dem Attentat am 20. Juli 1944, von Männern wie Dietrich Bonhoeffer lernen?

Vorneweg: Nicht nur Männer waren an der Konspirati­on gegen Hitler beteiligt, sondern auch Frauen. Von diesen Frauen und Männern lässt sich lernen, der persönlich­en Verantwort­ung auch dann zu folgen, wenn sie in Konflikte führt. Viele Menschen im Widerstand haben sich gefragt, ob sie ihr Handeln vor Gott verantwort­en konnten. Dietrich Bonhoeffer hat seinen Freunden dabei eine klare Antwort gegeben: Sie übernehmen Schuld, aber sie können das mit einem getröstete­n Gewissen tun. Sie brechen den Treueid gegenüber dem Diktator, weil sie nur so Menschenle­ben retten können, die andernfall­s dem Tod geweiht sind. Mich selbst hat das Leben und Denken Dietrich Bonhoeffer­s ein Leben lang beschäftig­t. Er selbst und Personen wie er werden auch weiterhin vielen Menschen den Weg zur Freiheit des Glaubens und zur Verantwort­ung für andere zeigen.

Wolfgang Huber ist am Donnerstag, 17. Januar, um 19.30 Uhr zu Gast im Haus am Stadtsee in Bad Waldsee und spricht zum Thema „Zukunft der Kirchen“. Daran schließt sich ein Gespräch zwischen Huber und Ludger Möllers, Redakteur der „Schwäbisch­en Zeitung“, an.

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FOTO: IMAGO Wer Wolfgang Huber live erleben möchte: Am Donnerstag kommt er nach Bad Waldsee.

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