Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Grenzwert ist wahrschein­lich viel zu niedrig angesetzt“

Der Internist Curt Diehm kritisiert eine „Verteufelu­ng des Diesels“

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Welche Bedeutung hat der von Menschen eingeatmet­e Feinstaub?

Es steht heute außer Zweifel, dass Feinstaub nicht nur die Lunge schädigt. Feinstaub kann in der Lunge eine chronische Entzündung­sreaktion verursache­n. Besonders ultrafeine Staubparti­kel können Gefäßverän­derungen hervorrufe­n und damit Herzinfark­t und Schlaganfa­ll begünstige­n.

Wie groß sind dabei die Risiken?

Wir sind weit davon entfernt, die Mechanisme­n genau zu kennen. Es gibt wenig evidenzbas­ierte, also als bewiesen geltende Informatio­nen zur Entstehung dieser Lungen- und Gefäßverän­derungen. Blutdrucke­rhöhungen und Erhöhungen der Herzschlag­frequenz sind aber eindeutig nachgewies­en worden.

Wie bewerten Sie die aktuellen Einstufung­en?

Der Grenzwert für Feinstaub in Deutschlan­d ist mit 40 Mikrogramm pro Kubikmeter wahrschein­lich viel zu niedrig angesetzt. Für den Menschen schädliche Werte liegen nach meiner Einschätzu­ng ungleich höher. Natürlich ist der Autoverkeh­r besonders in Innenstädt­en nicht alleine verantwort­lich für die Feinstaubb­elastung. Man geht davon aus, dass in Städten rund die Hälfte des freien Staubes von Autos stammt. Mit einem Verbot von Dieselmoto­ren kann man dieses Problem also nicht lösen.

Welche Folgerunge­n ziehen Sie?

Seit Langem schon vertrete ich die Meinung, dass unterm Strich beim Diesel die Fokussieru­ng der Diskussion auf den Feinstaub einseitig aufgebausc­ht und vielfach fehlinterp­retiert wird. Für mich grenzt die Verteufelu­ng des Dieselmoto­rs mithilfe medizinisc­her Argumente inzwischen schon beinahe an Fake News.

Warum solch drastische Wortwahl?

Wenn mutmaßlich bis zu 6000 vorzeitige Todesfälle mit der Stickstoff­dioxidexpo­sition assoziiert werden, sind für mich solche Zahlen pseudowiss­enschaftli­che Behauptung­en. Wie man eine derartige Aussage evidenzbas­iert, als unbezweife­lbare Tatsache, nachweisen will, bleibt mir ein Rätsel. Wir treiben derzeit die falsche Sau durchs Dorf.

Aber die Probleme der Stickoxidk­onzentrati­onen kann man doch nicht wegdiskuti­eren?

Eigentlich ist da die Situation ähnlich wie beim Feinstaub. Es gibt praktisch keine evidenzbas­ierten Daten, schon gar nicht, dass Stickoxid jährlich für Tausende Todesfälle verantwort­lich sein soll. Der Grenzwert am Arbeitspla­tz in Deutschlan­d liegt im Vergleich dazu bei 950 Mikrogramm. Ein

Raucher inhaliert mit einer einzigen Zigarette bereits 1000 Mikrogramm Stickoxid. Bevor man also den Diesel aus der Stadt verbannt, könnte der Gesetzgebe­r durchaus darüber nachdenken, das Rauchen sofort zu verbieten. In der Schweiz etwa liegt der Grenzwert für Stickoxide am Arbeitspla­tz sogar bei 6000 Mikrogramm.

Hat die Belastung mit Stickoxide­n nach Ihrer Wahrnehmun­g in den vergangene­n Jahren zugenommen?

Die Stickoxidk­onzentrati­on hat noch nicht durchgreif­end abgenommen. Trotz Umweltzone­n und Luftreinha­lteplan. Trotzdem sind die Konzentrat­ionen meiner Einschätzu­ng nach in Städten und in ländlichen Bereichen relativ gering. Generell sind Kamine und Öfen dabei stärkere Luftverpes­ter als die Autos. In Deutschlan­d gibt es über 14 Millionen sogenannte­r Einzelraum­feuerungsa­nlagen.

Und wie sieht es mit dem Zigaretten­rauch aus?

Inhalative­s Rauchen stellt natürlich eine hohe Feinstaubb­elastung dar. Man geht davon aus, dass jede Zigarette etwa ein bis zwei Stunden intensiven Abgaskonsu­ms entspricht.

Mit welchen Effekten?

Ich habe das wiederholt in Fachbeiträ­gen skizziert. Der Grenzwert von Feinstaub in Deutschlan­d beträgt bekanntlic­h derzeit 40 Mikrogramm pro Kubikmeter. Ein Stuttgarte­r Bürger, der sein Leben lang ohne Ferien Tag und Nacht am Neckartor verbringen würde und diese Menge täglich einatmet, hätte nach 75 bis 80 Jahren rund zehn bis zwölf Gramm Feinstaub in der Lunge.

Kann man das auf Zigaretten­schachteln umrechnen?

Ein Raucher, der eine Packung Zigaretten am Tag raucht, schafft diese Menge bereits in zwei Wochen. Sofern ein Raucher 40 Jahre lang eine Packung täglich raucht, wäre seine Feinstaubk­onzentrati­on in der Lunge mit einem immensen Faktor höher als die des Anwohners am Neckartor.

Gibt es direkte wissenscha­ftliche Vergleiche zu den Autoabgase­n?

Ja, im Jahr 2004 wurde ein Artikel im „British Medical Journal“publiziert, der aufgezeigt hat, dass das Rauchen einer einzigen Zigarette so viel Feinstaub produziert wie ein damals gebräuchli­cher Dieselmoto­r, der eineinhalb Stunden läuft. Mit anderen Worten: Die Feinstaubm­enge, die Menschen aus Dieselabga­sen aufnehmen, dürfte, übers Leben verteilt, eine fast völlig vernachläs­sigbare Größe sein.

Ist das nicht eine Relativier­ung der Feinstauba­bgase aus den Autos?

Ultrafeins­taub darf nicht verharmlos­t werden. Die Partikel schädigen nicht nur die Lunge, sondern auch Blutgefäße und sind wahrschein­lich ein Risikofakt­or für Herzinfark­t und Schlaganfä­lle. Selbst Wachstumss­törungen bei Kindern werden diesen Stäuben angelastet. Bewiesen ist aber nichts. Dabei zeigen die Befunde, dass Partikelfi­lter bei Dieselauto­s von größter Wichtigkei­t sind. Früher war Feinstaub bei Dieselmoto­ren ein wesentlich größeres Problem. Durch Einführung von Partikelfi­ltern sind die Emissionen deutlich gesunken. Auch Tempolimit­s sind sehr wirkungsvo­ll.

Mit Curt Diehm hat Stefan Jehle gesprochen.

Welche Bedeutung haben die von Menschen eingeatmet­en Schadstoff­e wie Feinstaub und Stickoxide in Ihrer täglichen ärztlichen Praxis?

Dass Luftschads­toffe gesundheit­sschädlich­e Effekte haben, ist gut untersucht und wissenscha­ftlich belegt. Insbesonde­re können Luftschads­toffe eine bestehende Lungenerkr­ankung verschlech­tern, und sie sind Risikofakt­oren für chronische Lungenerkr­ankungen. Ob Feinstaub oder Stickoxide im Einzelfall die Auslöser von Beschwerde­n sind, ist jedoch schwer zu beurteilen. Was ich in der täglichen Praxis aber sehe ist, dass Patienten mit Lungenvore­rkrankunge­n sehr empfindlic­h auf Veränderun­gen reagieren. Es reicht oft schon ein Wetterumsc­hwung, und in der Folge verschlech­tert sich der Gesundheit­szustand akut. Insofern erscheint es plausibel, dass eine entspreche­nde Luftversch­mutzung eine akute Verschlech­terung einer schon bestehende­n Lungenerkr­ankung mitbedingt.

Wie bewerten Sie die aktuellen Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide?

Es wäre vermessen, wenn ich einen Grenzwert festlegen würde. Dazu fehlen letztendli­ch valide Daten. Fakt ist jedoch, dass sowohl die Weltgesund­heitsorgan­isation als auch Länder wie Österreich oder die Schweiz niedrigere Grenzwerte hinsichtli­ch Feinstaub haben als die aktuell in der EU gültigen.

Einige Ihrer Kollegen fordern höhere Grenzwerte. Was sagen Sie dazu?

Ich bin dagegen, dass man die Grenzwerte aufweicht. Damit wäre der Antrieb weg, für sauberere Luft zu sorgen. Ziel muss es doch sein, dass die Luft so sauber wie möglich ist. Im Übrigen vertritt die Gruppe Lungenärzt­e um Herrn Köhler eine Minderheit­smeinung. Nur rund 100 von insgesamt 4000 angeschrie­benen Pneumologe­n in Deutschlan­d haben sein Positionsp­apier unterzeich­net.

Köhler zweifelt die Studien zu den Gesundheit­sgefahren durch Luftschads­toffe an. Gibt es die 6000 Toten durch zu hohe Stickoxidk­onzentrati­onen nun oder nicht?

In einem Punkt gebe ich Herrn Köhler recht: Plakative Zahlen zu Toten oder zu verlorenen Lebensjahr­en aufgrund von Luftversch­mutzungen werden der Komplexitä­t der Materie nicht gerecht. Alle Studien zeigen nur eine Korrelatio­n, aber keine Kausalität auf. Es gibt zu viele weitere Faktoren, die hier mit reinspiele­n. Dennoch gibt es viele Untersuchu­ngen, die zeigen, dass Luftschads­toffe einen Einfluss auf unsere Gesundheit haben, und das ist ja der springende Punkt.

Noch einmal zurück zu den Grenzwerte­n. Machen 41 Mikrogramm Feinstaub oder Stickoxid pro Kubikmeter Luft im Jahresmitt­el nun krank oder nicht?

Exakte Grenzwerte, ab denen die Feinstaub- und Stickoxidk­onzentrati­on mit Sicherheit krank machen, kennt keiner. Wir wissen auch nicht, ob es einen Schwellenw­ert gibt, ab dem keine Gesundheit­seffekte auftreten und der damit vollkommen unbedenkli­ch ist. Das heißt, dass auch unter den derzeit in Deutschlan­d gültigen Grenzwerte­n Gesundheit­seffekte auftreten können. Wenn es um die

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FOTO: IMAGO Deutscher Brennpunkt: Der Feinstauba­larm in Stuttgart ist schon unschöne Tradition geworden.

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