Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Der Vertrag wurde von den Russen ausgehöhlt“
Der CDU-Außenexperte Roderich Kiesewetter zum drohenden Aus des INF-Abkommens
RAVENSBURG - Die Verantwortung für den Ausstieg der USA aus dem INF-Abkommen liegt nach Ansicht des CDU-Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter bei Russland. „Der Vertrag wurde von den Russen schleichend ausgehöhlt“, kritisiert der Außenpolitik-Experte im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Nötig sei eine Doppelstrategie: Einerseits müssten Deutschland und die Nato standfest bleiben. „Auf der anderen Seite geht es darum, die Türen offen zu halten und alle Gesprächskanäle zu nutzen, so Kiesewetter. Claudia Kling hat mit ihm gesprochen.
Herr Kiesewetter, die USA steigen aus dem INF-Vertrag aus, der landgestützte Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern verbietet. Was bedeutet diese Entscheidung für die Bevölkerung in Deutschland?
Ohne diesen Vertrag wäre die Sicherheit in Europa gefährdet. Einerseits droht Gefahr aus Russland, wenn dort wieder nukleare Mittelstreckenraketen stationiert würden. Andererseits besteht das Risiko, dass die USA unter Präsident Donald Trump die Sicherheit in Europa den Europäern überlassen wollen. Dann wären wir plötzlich in Reichweite russischer Raketen, ohne etwas dagegen ausrichten zu können. Letztlich geht es also um den Schutz der deutschen Bevölkerung.
Warum steht dieser Vertrag, den US-Präsident Ronald Reagan und der russische Präsident Michail Gorbatschow 1987 im Kalten Krieg unterzeichnet haben, wieder zur Disposition?
Der Vertrag wurde von den Russen schleichend ausgehöhlt. Russland hat vor vier, fünf Jahren damit begonnen, hinter den Kulissen ein neues Waffensystem einzuführen. Aber erst im Frühjahr vergangenen Jahres, als sie von den Amerikanern mit ihren Erkenntnissen konfrontiert wurden, haben sie die Existenz dieses Waffensystems eingeräumt beziehungsweise nicht länger dementiert. Jetzt geht es darum, Russland dazu zu bringen, die Regeln wieder einzuhalten. Sie haben dieses System entwickelt. Deshalb liegt der Ball nun bei ihnen.
Gibt es tatsächlich Beweise, dass die Russen gegen den Vertrag verstoßen haben? Oder sind dies bislang nur Vermutungen?
Das, was auf dem Tisch liegt, geht deutlich über Vermutungen hinaus. Die Amerikaner haben bereits 2014 festgestellt, dass die Russen an einem neuen Waffensystem arbeiten. Fraglich war nur die Reichweite dieser Waffen. Nachrichtendienste verschiedener Seiten schätzten sie auf zwischen 500 und 2500 Kilometern. Die Russen beharren hingegen darauf, dass es nur 480 Kilometer seien. Das ist allerdings nicht sehr plausibel, weil Russland bereits ein System für Reichweiten unter 500 Kilometern hat. Da braucht es kein zweites.
Von russischer Seite wird argumentiert, auch die Amerikaner würden gegen den Vertrag verstoßen. Was ist dran an diesem Vorwurf?
Die Russen werfen den Amerikanern vor, Drohnen einzusetzen. Diese Drohnen sind aber nicht Teil des Vertrags von 1987, schlicht weil es sie damals noch nicht gab. Deshalb verletzen die USA den Vertrag nicht. Moskau beharrt auch darauf, dass die Raketenabwehrsysteme, die bereits in Rumänien stationiert sind und demnächst auch in Polen stationiert sein werden, gegen den Vertrag verstoßen, weil sie angeblich BodenBoden-Raketen enthalten. Aber auch dies stimmt so nicht. Die dort eingesetzten Raketen eignen sich nicht als Angriffswaffen, sie dienen als Boden-Luft-Raketen der Verteidigung. Um diese Kritikpunkte auszuräumen, wurde den Russen und Amerikanern von deutscher Seite der Vorschlag unterbreitet, gegenseitige Inspektionen zuzulassen. Bislang haben sich beide in diesem Punkt nicht bewegt.
Welche Bedeutung hat dieser Vertrag überhaupt noch angesichts einer völlig veränderten Weltlage? Inzwischen haben doch auch Länder wie China, Indien, Iran und Nordkorea entsprechende Waffensysteme. Genauso argumentieren auch die Russen. Sie behaupten, weder Russland noch die USA hätten ein Interesse am Fortbestand des Vertrags, weil beide Länder dadurch eher geschwächt würden, wenn gleichzeitig China, Indien, Iran, Pakistan und Nordkorea entsprechende Waffen entwickeln. Das ist aber ein wenig überzeugendes Argument. Viel glaubwürdiger wäre es, wenn Russland und die USA dem deutschen Vorschlag Gehör schenken würden und über eine internationale Öffnung des Vertrags verhandeln würden. Das wäre natürlich ein extrem schwieriges und langwieriges Vorhaben, aber es wäre ein positives Signal, wenn beide Großmächte zeigen würden, wie wichtig ihnen die Sicherheit der Bevölkerung ist.
Politiker wie das SPD-Urgestein Erhard Eppler befürchten bereits einen neuen Kalten Krieg zwischen den USA und Russland. Ist das, was wir demnächst erleben werden, vergleichbar mit dem Wettrüsten Anfang der 1980er-Jahre – und der dadurch entstandenen atomaren Bedrohung in Europa?
Noch nicht. Erstens haben die Amerikaner nicht gesagt, dass sie neue Systeme stationieren wollen, die Entwicklung ist unter dem Vertrag hingegen erlaubt, nicht aber Tests, Produktion und Stationierung. Zweitens: Selbst wenn die Amerikaner nun den Vertrag aufkündigen, bleiben sechs Monate Zeit, um weiter zu verhandeln. Wir sollten diese Zeit gut nutzen, um unsere Position deutlich zu machen. Deutschland sollte jetzt weder von vornherein sagen, dass es eine nukleare Nachrüstung ausschließt, noch sollten wir, wie die Polen es gerade machen, die Nachrüstung mit Nuklearwaffen vorantreiben. Das würde nur zur Eskalation beitragen. Das kann nicht unser Ziel sein.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, den INF-Vertrag noch zu retten?
Ich bin ein großer Anhänger der Doppelstrategie, die Helmut Schmidt Anfang der 1980er-Jahre verfolgt hat und die dann von Helmut Kohl fortgeführt wurde. Wir müssen auf der einen Seite Festigkeit zeigen und klarmachen, dass wir nicht erpressbar sind. Auf der anderen Seite geht es darum, die Türen für Russland offen zu halten und alle Gesprächskanäle zu nutzen. Russland ist beim Wiederaufbau von Syrien sehr stark auf westliche Hilfe angewiesen. Deshalb haben wir auch die Möglichkeit, Forderungen zu stellen. Es gibt genügend Hebel, auf die wir einwirken können.
Wie groß ist die Gefahr, dass sich Europa und die Nato im Streit um den INF-Vertrag spalten lassen?
Diese Gefahr ist tatsächlich gegeben – und es wäre ein großes Problem. Das Ziel der deutschen Außenpolitik muss es deshalb sein, in der EU und in der Nato Einvernehmen über das weitere Vorgehen herzustellen. Wir müssen gegenüber den Russen eine klare Position vertreten und gleichzeitig die eigenen Partner, die Balten und Polen, die sich von Russland besonders bedroht fühlen, im Zaum halten. Der Nato-Russland-Rat muss wiederbelebt werden, auch die Militärdiplomatie. In den nächsten Monaten geht es darum, Zeit zu gewinnen, um eine Nachrüstungsdebatte zu vermeiden. Die EU-Mitgliedsstaaten verfügen über das Zuckerbrot, das nötig ist, um Russland ein Einlenken schmackhaft zu machen. Und in einem engen Schulterschluss der Nato-Staaten liegt die Festigkeit, die wir brauchen, um Russland auf diesen Weg zu bringen.