Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Digital aufgemöbelt
Was die vierte industrielle Revolution für den Büromöbelhersteller Interstuhl bedeutet
MESSSTETTEN-TIERINGEN - Helmut Link springt von seinem Bürostuhl auf. „Etwas nervig ist das Ding schon“, scherzt der Co-Chef des Büromöbelherstellers Interstuhl aus Meßstetten-Tieringen. Gerade hat ihn eine Meldung auf dem Monitor seines Rechners aufgescheucht – ausgelöst von einem daumennagelgroßen Sensor an der Unterseite des Sitzpolsters. Dieses „Ding“, wie Link es nennt, ist über Funk mit seinem Rechner verbunden und meldet sich bei längerer Inaktivität mit einer unmissverständlichen Aufforderung, sich zu bewegen. Der Unternehmer muss dann entweder auf seinem Bürostuhl rumzappeln oder aufstehen, und die für den Menschen eigentlich unnatürliche Körperhaltung des Sitzens verlassen.
Aktives Sitzen nennt Interstuhl die Lösung, die zusammen mit dem Navigationsriesen Garmin entwickelt wurde, und mit der das Familienunternehmen aus Meßstetten-Tieringen (Zollernalbkreis) von der Digitalisierung profitieren will. Schützenhilfe bekommt Interstuhl von der Volkskrankheit Nummer 1: Rückenschmerzen. „Wir wollen nicht immer noch bequemere Stühle bauen auf denen die Menschen noch länger sitzen und noch kränker werden“, umreißt Link die Problematik. Dass zu langes Sitzen krank macht, und nicht nur muskuläre oder skeletale, sondern auch mentale Probleme verursacht, ist in vielen Studien bewiesen. Geht es nach Link, ist das Büro der Zukunft nicht nur Begegnungs-, sondern vor allem auch Bewegungsstätte.
Auslaufmodell Großraumbüro
Welche Auswirkungen die vierte industrielle Revolution auf das Geschäftsmodell des eigenen Unternehmens hat – darüber zerbrechen sich zurzeit fast alle Unternehmer ihren Kopf. Auch bei Interstuhl ist das der Fall. Dabei passen Digitalisierung und Bürodrehstühle auf den ersten Blick gar nicht recht zusammen. Doch bei genauerem Hinsehen ist das Geschäftsmodell von Interstuhl sogar ganz erheblich davon betroffen. Denn die Nutzung mobiler Endgeräte, drahtloser Kommunikation und Cloud-Computing drängt den stationären Arbeitsplatz mit Desktop-PC, Tisch und Bürostuhl mehr und mehr zurück. „Die Digitalisierung treibt die Bürowelten vor sich her“, berichtet Link, „der Drehstuhl verliert an Bedeutung.“
Stattdessen sind in modernen Büros vermehrt offene Räume mit Sitzgruppen, Workcafés mit Sofas oder Bistroplätze mit Hochstühlen zu finden. Mittelzone oder Soft Seating nennt Helmut Link diese Bereiche, die heute immer mehr Raum einnehmen. „Lag das Verhältnis zwischen traditionellen Büros und der sogenannten Mittelzone früher bei 80 zu 20 ist es heute bei 50 zu 50“, so Link. Damit einher geht eine Verschiebung in den Budgets der Firmen hin zu preiswerten Hochstühlen und Hockern und weg von den teuren Bürodrehstühlen mit seinen vielfältigen Einstellmöglichkeiten. Und selbst bei diesen werden vor allem einfache Modelle nachgefragt, da Mitarbeiter angesichts neuer Arbeitsplatzalternativen nicht mehr so lange darauf sitzen.
Interstuhl stellt sich auf diesen Trend ein. „Wir wandeln uns von einem Stuhldesigner zu einem Raumgestalter“, sagt Link. Dabei will sich das Unternehmen auf die besonders margenträchtigen Bereiche der neuen Bürowelten konzentrieren. „In das Rennen um den am schnellsten hochfahrenden Schreibtisch oder das innovativste Stauraumkonzept steigen wir nicht ein. Diese Segmente sind bereits gut besetzt. Wir konzentrieren uns auf die neuen Begegnungsstätten im modernen Büro. In diesem Bereich wollen wir ein großes Angebot bieten.“Langfristig, glaubt Link, könne Interstuhl den Umsatzanteil mit Produkten für alternative Bürozonen auf bis zu 20 Prozent ausbauen.
Dafür will das Unternehmen seine Kunden künftig verstärkt auch beraten. Landauf, landab investieren Firmen zwar in neue Einrichtungskonzepte, um Mitarbeitern kreativere Arbeitsumgebungen zu bieten. Doch das Wissen darüber, welche Rahmenbedingungen nötig sind, um das zu erreichen, ist in der Regel nicht vorhanden. „Wie gestalte ich einen Raum so, dass die Mitarbeiter lange konzentriert arbeiten können? Diese und andere Fragen müssen wir unseren Kunden beantworten können“, so Link.
Nicht kleckern, sondern klotzen
Für Interstuhl sind die neuen Aktivitäten durchaus ein Kraftakt. Denn in der Branche zählt Größe – und die hat der Büromöbelhersteller im Vergleich zu den Global Playern nicht. Mit einem Umsatzvolumen von rund 170 Millionen Euro ist Interstuhl ein eher kleiner Wettbewerber. Hinzu kommt, dass die Branche hochsensibel auf Konjukturaufund -abschwünge reagiert. „Wir hyperoszillieren“, sagt Link zu dem Phänomen, dass das Geschäft von Büromöbelherstellern bereits schrumpft, wenn die Wachstumsrate der Gesamtwirtschaft unter die Marke von 1,2 Prozent fällt. Läuft es mit der Konjunktur nicht mehr so rund, werden Unternehmen mit Neueinstellungen vorsichtiger und schieben Neuanschaffungen hinaus – eine Situation, die nach Jahren der Hochkonjunktur immer wahrscheinlicher wird.
Umso mehr ärgert Link, im Bieterprozess für den Polstermöbelspezialisten Rolf Benz im vergangenen Jahr den Kürzeren gezogen zu haben. „Mit Rolf Benz hätten wir Risiko aus unserem Geschäftsmodell genommen und wären im Segment Soft Seating schneller und vor allem mit einer viel breiteren Produktpalette unterwegs gewesen“, sagt der Unternehmer, und fügt hinzu: „So eine Gelegenheit hat man im Unternehmerleben nicht oft.“
Doch gegen die Finanzkraft eines chinesischen Staatskonzerns kam das Familienunternehmen von der Schwäbischen Alb, das in Meßstetten-Tieringen
Interstuhl Büromöbel GmbH & Co. KG
Die
wird in dritter Generation von den Brüdern Helmut und Joachim Link geführt. Ursprung des Unternehmens ist eine Dorfschmiede. 2018 setzte Interstuhl nach eigenen Angaben mit den Marken Bimos und Interstuhl rund 170 Millionen Euro um. Der Exportanteil beider Marken liegt bei 43 Prozent. Gewinnzahlen nennt Interstuhl nicht. Nach Aussage von Helmut Link ist das Unternehmen nach Steuern aber profitabel. (ank) und an einem Standort in Mexiko insgesamt 850 Mitarbeiter beschäftigt, nicht an. Und so bleiben Helmut Link und seinem Bruder Joachim, die sich die Führung des Unternehmens teilen, nichts anderes übrig, als den Umbau aus eigener Kraft zu stemmen. Nicht kleckern, sondern klotzen lautet dabei die Devise der Firmeninhaber am Hauptsitz Meßstetten-Tieringen. „Wir wollen Interstuhl verdoppeln. Die nächsten zehn Jahre überstehen wir nicht, wenn wir so weitermachen wie bisher“, gibt Link die Marschroute vor. So sollen die Produktionskapazitäten deutlich ausgebaut werden. Heute bremst die überschaubare Werksfläche die innerbetriebliche Logistik; mit mehr Platz ließe sich effizienter produzieren. Auch verlangt die Herstellung von Soft-SeatingProdukten wie Sitzgruppen oder Sofas mehr Quadratmeter als die Produktion von Bürodrehstühlen. Angst, sich zu überheben, haben die Brüder dabei nicht. „Beim Marktanteil haben wir noch deutlich Luft nach oben“, ist sich Helmut Link sicher.