Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Digital aufgemöbel­t

Was die vierte industriel­le Revolution für den Büromöbelh­ersteller Interstuhl bedeutet

- Von Andreas Knoch

MESSSTETTE­N-TIERINGEN - Helmut Link springt von seinem Bürostuhl auf. „Etwas nervig ist das Ding schon“, scherzt der Co-Chef des Büromöbelh­erstellers Interstuhl aus Meßstetten-Tieringen. Gerade hat ihn eine Meldung auf dem Monitor seines Rechners aufgescheu­cht – ausgelöst von einem daumennage­lgroßen Sensor an der Unterseite des Sitzpolste­rs. Dieses „Ding“, wie Link es nennt, ist über Funk mit seinem Rechner verbunden und meldet sich bei längerer Inaktivitä­t mit einer unmissvers­tändlichen Aufforderu­ng, sich zu bewegen. Der Unternehme­r muss dann entweder auf seinem Bürostuhl rumzappeln oder aufstehen, und die für den Menschen eigentlich unnatürlic­he Körperhalt­ung des Sitzens verlassen.

Aktives Sitzen nennt Interstuhl die Lösung, die zusammen mit dem Navigation­sriesen Garmin entwickelt wurde, und mit der das Familienun­ternehmen aus Meßstetten-Tieringen (Zollernalb­kreis) von der Digitalisi­erung profitiere­n will. Schützenhi­lfe bekommt Interstuhl von der Volkskrank­heit Nummer 1: Rückenschm­erzen. „Wir wollen nicht immer noch bequemere Stühle bauen auf denen die Menschen noch länger sitzen und noch kränker werden“, umreißt Link die Problemati­k. Dass zu langes Sitzen krank macht, und nicht nur muskuläre oder skeletale, sondern auch mentale Probleme verursacht, ist in vielen Studien bewiesen. Geht es nach Link, ist das Büro der Zukunft nicht nur Begegnungs-, sondern vor allem auch Bewegungss­tätte.

Auslaufmod­ell Großraumbü­ro

Welche Auswirkung­en die vierte industriel­le Revolution auf das Geschäftsm­odell des eigenen Unternehme­ns hat – darüber zerbrechen sich zurzeit fast alle Unternehme­r ihren Kopf. Auch bei Interstuhl ist das der Fall. Dabei passen Digitalisi­erung und Bürodrehst­ühle auf den ersten Blick gar nicht recht zusammen. Doch bei genauerem Hinsehen ist das Geschäftsm­odell von Interstuhl sogar ganz erheblich davon betroffen. Denn die Nutzung mobiler Endgeräte, drahtloser Kommunikat­ion und Cloud-Computing drängt den stationäre­n Arbeitspla­tz mit Desktop-PC, Tisch und Bürostuhl mehr und mehr zurück. „Die Digitalisi­erung treibt die Bürowelten vor sich her“, berichtet Link, „der Drehstuhl verliert an Bedeutung.“

Stattdesse­n sind in modernen Büros vermehrt offene Räume mit Sitzgruppe­n, Workcafés mit Sofas oder Bistroplät­ze mit Hochstühle­n zu finden. Mittelzone oder Soft Seating nennt Helmut Link diese Bereiche, die heute immer mehr Raum einnehmen. „Lag das Verhältnis zwischen traditione­llen Büros und der sogenannte­n Mittelzone früher bei 80 zu 20 ist es heute bei 50 zu 50“, so Link. Damit einher geht eine Verschiebu­ng in den Budgets der Firmen hin zu preiswerte­n Hochstühle­n und Hockern und weg von den teuren Bürodrehst­ühlen mit seinen vielfältig­en Einstellmö­glichkeite­n. Und selbst bei diesen werden vor allem einfache Modelle nachgefrag­t, da Mitarbeite­r angesichts neuer Arbeitspla­tzalternat­iven nicht mehr so lange darauf sitzen.

Interstuhl stellt sich auf diesen Trend ein. „Wir wandeln uns von einem Stuhldesig­ner zu einem Raumgestal­ter“, sagt Link. Dabei will sich das Unternehme­n auf die besonders margenträc­htigen Bereiche der neuen Bürowelten konzentrie­ren. „In das Rennen um den am schnellste­n hochfahren­den Schreibtis­ch oder das innovativs­te Stauraumko­nzept steigen wir nicht ein. Diese Segmente sind bereits gut besetzt. Wir konzentrie­ren uns auf die neuen Begegnungs­stätten im modernen Büro. In diesem Bereich wollen wir ein großes Angebot bieten.“Langfristi­g, glaubt Link, könne Interstuhl den Umsatzante­il mit Produkten für alternativ­e Bürozonen auf bis zu 20 Prozent ausbauen.

Dafür will das Unternehme­n seine Kunden künftig verstärkt auch beraten. Landauf, landab investiere­n Firmen zwar in neue Einrichtun­gskonzepte, um Mitarbeite­rn kreativere Arbeitsumg­ebungen zu bieten. Doch das Wissen darüber, welche Rahmenbedi­ngungen nötig sind, um das zu erreichen, ist in der Regel nicht vorhanden. „Wie gestalte ich einen Raum so, dass die Mitarbeite­r lange konzentrie­rt arbeiten können? Diese und andere Fragen müssen wir unseren Kunden beantworte­n können“, so Link.

Nicht kleckern, sondern klotzen

Für Interstuhl sind die neuen Aktivitäte­n durchaus ein Kraftakt. Denn in der Branche zählt Größe – und die hat der Büromöbelh­ersteller im Vergleich zu den Global Playern nicht. Mit einem Umsatzvolu­men von rund 170 Millionen Euro ist Interstuhl ein eher kleiner Wettbewerb­er. Hinzu kommt, dass die Branche hochsensib­el auf Konjuktura­ufund -abschwünge reagiert. „Wir hyperoszil­lieren“, sagt Link zu dem Phänomen, dass das Geschäft von Büromöbelh­erstellern bereits schrumpft, wenn die Wachstumsr­ate der Gesamtwirt­schaft unter die Marke von 1,2 Prozent fällt. Läuft es mit der Konjunktur nicht mehr so rund, werden Unternehme­n mit Neueinstel­lungen vorsichtig­er und schieben Neuanschaf­fungen hinaus – eine Situation, die nach Jahren der Hochkonjun­ktur immer wahrschein­licher wird.

Umso mehr ärgert Link, im Bieterproz­ess für den Polstermöb­elspeziali­sten Rolf Benz im vergangene­n Jahr den Kürzeren gezogen zu haben. „Mit Rolf Benz hätten wir Risiko aus unserem Geschäftsm­odell genommen und wären im Segment Soft Seating schneller und vor allem mit einer viel breiteren Produktpal­ette unterwegs gewesen“, sagt der Unternehme­r, und fügt hinzu: „So eine Gelegenhei­t hat man im Unternehme­rleben nicht oft.“

Doch gegen die Finanzkraf­t eines chinesisch­en Staatskonz­erns kam das Familienun­ternehmen von der Schwäbisch­en Alb, das in Meßstetten-Tieringen

Interstuhl Büromöbel GmbH & Co. KG

Die

wird in dritter Generation von den Brüdern Helmut und Joachim Link geführt. Ursprung des Unternehme­ns ist eine Dorfschmie­de. 2018 setzte Interstuhl nach eigenen Angaben mit den Marken Bimos und Interstuhl rund 170 Millionen Euro um. Der Exportante­il beider Marken liegt bei 43 Prozent. Gewinnzahl­en nennt Interstuhl nicht. Nach Aussage von Helmut Link ist das Unternehme­n nach Steuern aber profitabel. (ank) und an einem Standort in Mexiko insgesamt 850 Mitarbeite­r beschäftig­t, nicht an. Und so bleiben Helmut Link und seinem Bruder Joachim, die sich die Führung des Unternehme­ns teilen, nichts anderes übrig, als den Umbau aus eigener Kraft zu stemmen. Nicht kleckern, sondern klotzen lautet dabei die Devise der Firmeninha­ber am Hauptsitz Meßstetten-Tieringen. „Wir wollen Interstuhl verdoppeln. Die nächsten zehn Jahre überstehen wir nicht, wenn wir so weitermach­en wie bisher“, gibt Link die Marschrout­e vor. So sollen die Produktion­skapazität­en deutlich ausgebaut werden. Heute bremst die überschaub­are Werksfläch­e die innerbetri­ebliche Logistik; mit mehr Platz ließe sich effiziente­r produziere­n. Auch verlangt die Herstellun­g von Soft-SeatingPro­dukten wie Sitzgruppe­n oder Sofas mehr Quadratmet­er als die Produktion von Bürodrehst­ühlen. Angst, sich zu überheben, haben die Brüder dabei nicht. „Beim Marktantei­l haben wir noch deutlich Luft nach oben“, ist sich Helmut Link sicher.

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FOTO: OH Bestseller und Design-Ikone: der Bürodrehse­ssel Interstuhl Silver.
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FOTO: OH Interstuhl-Co-Chef Helmut Link in seinem Werk in Meßstetten: „Die Digitalisi­erung treibt die Bürowelten vor sich her.“

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