Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Aufräumen ist angesagt
Der Internet-Hype um Marie Kondo zeigt, wie groß das Bedürfnis nach einer geordneten Welt ist
Macht das Freude oder kann das weg? Die Aufräumberaterin Marie Kondo ist dank der Netflix-Serie „Tidying up“aktuell der große Star im Internet. Dabei sind ihre Ideen gar nicht so neu. Außergewöhnlich ist vielmehr, mit welcher Leidenschaft sich ihre Fans auf einmal einer ungeliebten Aufgabe widmen: Unter dem Hashtag „#konmari“zeigen Zehntausende Nutzer der Fotoplattform Instagram ihre nach Kondos Methode fein säuberlich gefalteten T-Shirts, aber auch ihre tadellos aufgeräumten Küchenschränke und alles, was sich sonst noch irgendwie ordnen lässt. Mit ihrem Buch „Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert“glückte der Japanerin bereits 2014 ein Bestseller, mittlerweile ist sie Inhaberin eines millionenschweren Ratgeber-Imperiums.
Der Organisationspsychologe Udo Bittner sagt: „Bereits im Kindergarten lernen wir: Wenn du das Spielzeug nicht mehr brauchst, räum es an seinen Platz zurück und nimm erst dann ein neues heraus. So einfach ist das.“Bittner, selbstständiger Berater für Arbeitsmethodik, ist unter anderem Lehrbeauftragter für Projektmanagement und Kommunikation an der Hochschule Pforzheim. Wer sich mit dem Aufräumen beschäftigt, muss aber gar nicht so weit zurückblicken: Der evangelische Pfarrer Werner Tiki Küstenmacher brachte mit „Simplify your life“2001 einen sehr erfolgreichen Ratgeber für Menschen heraus, die Ordnung in ihr Leben bringen wollen. Küstenmacher identifizierte als Grund für Unordnung die „Zuviel-isation“, und das sieht auch Bittner so: „Trotz Ebay, Momox und Kleiderkreisel ist es immer noch einfacher, etwas zu kaufen als es wieder loszuwerden.“Durch den Kauf per Mausklick sei es sehr verführerisch, Dinge zu kaufen, die man nicht wirklich braucht – etwa aus Frust oder Langeweile. Bittners Rat: Keine Spontankäufe tätigen, lieber drei Tage warten und sehen, ob man die Anschaffung wirklich braucht. Meistens mache man sich nämlich keine Gedanken, wo das neue Teil aufbewahrt wird: „Unordnung entsteht, wenn für manche Dinge kein fester Platz definiert wird“, sagt der 55-Jährige. Während es beim einen das „ganz normale“Chaos ist, kann große Unordnung durchaus gefährlich werden: Bei Messies kann die Gesundheit leiden, wenn etwa Essen in der Wohnung verschimmelt. Doch es muss nicht der Extremfall sein: Auch der Bücherstapel auf der Treppe im etwas unordentlichen Haus kann beispielsweise bei einem Stromausfall zur fiesen Stolperfalle werden.
Den aktuellen Rummel um Marie Kondo erklärt sich Bittner mit dem Bedürfnis nach Orientierung: „Die Leute sind überfordert, durch Globalisierung, durch Digitalisierung, unsichere Verhältnisse, Wertewandel. Das zieht sich durch alle Generationen. Da ist es für manche Menschen hilfreich wenn es einen Guru gibt, der ihnen sagt, wo es langgeht.“
Sammler sind ein Ausnahmefall
Wer Kondos Aufräum-Methode umsetzt – in der Serie etwa ein verheiratetes Paar mit Kindern oder eine Witwe, die den Tod ihres Mannes verarbeiten muss –, soll sich dabei nicht Raum für Raum vornehmen, sondern Kategorien: Kleidung, Bücher, Papiere, Kleinkram und Erinnerungsstücke. Die zentrale Empfehlung: nur das behalten, was einen glücklich macht. Dabei ist Kondos Methode auch stark mit ihrem kulturellen Hintergrund verknüpft. Die 34-Jährige, die inzwischen in der USWestküstenmetropole Los Angeles lebt, bezieht sich auch auf den Shintoismus. Der traditionelle japanische Glaube spricht auch materiellen Dingen eine Seele zu. Wer rationalere Ansätze als Entscheidungshilfe braucht, soll sich Bittners Meinung nach fragen: „Hast du das in den letzten zwei Jahren benutzt?“
Grundsätzlich hält Bittner nichts davon, sich starr an eine Methode zu klammern, jeder müsse seinen eigenen Entrümpelungs-Modus finden. Im Netz wurde kontrovers diskutiert, dass Kondo 30 Bücher für genug hält. Doch die Aufräum-Expertin hatte diese Zahl nicht als Anweisung ausgegeben, sondern gesagt, dass sie selbst mit dieser Beschränkung gut lebe. Jeder müsse für sich entscheiden, welchen Wert er welchen Dingen beimesse. Wer dauerhaft Ordnung halten will, dem empfiehlt Bittner das sogenannte Fließgleichgewicht: „Wenn man sich ein neues Oberteil oder neue Schuhe kauft, kommt dafür ein bereits vorhandenes Exemplar weg. Ersetzen statt addieren“, so Bittner, der BWL und Psychologie mit Schwerpunkt Organisationspsychologie an der Universität Tübingen studiert hat.
Bei Sammlern sei das nochmal etwas anderes. Eine private Bibliothek könne durchaus sehr ordentlich sein und dem Besitzer am Herzen liegen. Wenn die Sammlung einen Teil der Identität ausmache und Ausdruck der Persönlichkeit ist, sei es nicht sinnvoll, sich davon zu trennen.
Aufräumen für die Psyche
In der landläufigen Vorstellung spiegelt eine ordentliche Wohnung wider, das man sein Leben im Griff hat. Und in der Tat kann Unordnung auch Ausdruck von psychischen Problemen sein. Bittner erinnert sich etwa an den Fall einer Frau, die immer noch gegen die eigene Mutter rebellierte: Die etwas korpulente Dame lebte in einer chaotischen Wohnung, während ihre Mutter – eine schlanke Ernährungsberaterin – im minimalistischen Eigenheim residierte. Oft sind es aber auch antrainierte Glaubenssätze wie „Das kann man sicher irgendwann brauchen“, die den Aufräumdrang bremsen. Wie so oft geht es um das gesunde Maß: „Wenn es zu ordentlich ist, kann auch ein Zwang dahinterstecken“, so der gebürtige Herrenberger. In einem anderen Fall lebte eine Frau geschieden, arbeitslos und verschuldet in einer karg eingerichteten Wohnung. „Sie meinte: Bei all dem Chaos in meinem Leben brauche ich nicht auch noch Chaos in meiner Wohnung.“In diesem Fall sei die Ordnung kein Zeichen für eine gesunde Psyche gewesen.
Eine besondere Empfehlung hat Bittner für Paare, die frisch zusammengezogen sind: Während herumliegende Socken in der Single-Wohnung niemand gestört haben, werden sie im gemeinsamen Domizil zum Aufreger. „Darüber reden und klare Absprachen treffen hilft“, rät Bittner. Und: Banale Dinge ein für allemal regeln, keine Wochenpläne mit abwechselnden Zuständigkeiten erstellen: „Ich bringe bei uns zuhause den Müll raus – immer. So kann ich es auch nicht mehr vergessen.“