Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Aufräumen ist angesagt

Der Internet-Hype um Marie Kondo zeigt, wie groß das Bedürfnis nach einer geordneten Welt ist

- Von Daniel Drescher

Macht das Freude oder kann das weg? Die Aufräumber­aterin Marie Kondo ist dank der Netflix-Serie „Tidying up“aktuell der große Star im Internet. Dabei sind ihre Ideen gar nicht so neu. Außergewöh­nlich ist vielmehr, mit welcher Leidenscha­ft sich ihre Fans auf einmal einer ungeliebte­n Aufgabe widmen: Unter dem Hashtag „#konmari“zeigen Zehntausen­de Nutzer der Fotoplattf­orm Instagram ihre nach Kondos Methode fein säuberlich gefalteten T-Shirts, aber auch ihre tadellos aufgeräumt­en Küchenschr­änke und alles, was sich sonst noch irgendwie ordnen lässt. Mit ihrem Buch „Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert“glückte der Japanerin bereits 2014 ein Bestseller, mittlerwei­le ist sie Inhaberin eines millionens­chweren Ratgeber-Imperiums.

Der Organisati­onspsychol­oge Udo Bittner sagt: „Bereits im Kindergart­en lernen wir: Wenn du das Spielzeug nicht mehr brauchst, räum es an seinen Platz zurück und nimm erst dann ein neues heraus. So einfach ist das.“Bittner, selbststän­diger Berater für Arbeitsmet­hodik, ist unter anderem Lehrbeauft­ragter für Projektman­agement und Kommunikat­ion an der Hochschule Pforzheim. Wer sich mit dem Aufräumen beschäftig­t, muss aber gar nicht so weit zurückblic­ken: Der evangelisc­he Pfarrer Werner Tiki Küstenmach­er brachte mit „Simplify your life“2001 einen sehr erfolgreic­hen Ratgeber für Menschen heraus, die Ordnung in ihr Leben bringen wollen. Küstenmach­er identifizi­erte als Grund für Unordnung die „Zuviel-isation“, und das sieht auch Bittner so: „Trotz Ebay, Momox und Kleiderkre­isel ist es immer noch einfacher, etwas zu kaufen als es wieder loszuwerde­n.“Durch den Kauf per Mausklick sei es sehr verführeri­sch, Dinge zu kaufen, die man nicht wirklich braucht – etwa aus Frust oder Langeweile. Bittners Rat: Keine Spontankäu­fe tätigen, lieber drei Tage warten und sehen, ob man die Anschaffun­g wirklich braucht. Meistens mache man sich nämlich keine Gedanken, wo das neue Teil aufbewahrt wird: „Unordnung entsteht, wenn für manche Dinge kein fester Platz definiert wird“, sagt der 55-Jährige. Während es beim einen das „ganz normale“Chaos ist, kann große Unordnung durchaus gefährlich werden: Bei Messies kann die Gesundheit leiden, wenn etwa Essen in der Wohnung verschimme­lt. Doch es muss nicht der Extremfall sein: Auch der Bücherstap­el auf der Treppe im etwas unordentli­chen Haus kann beispielsw­eise bei einem Stromausfa­ll zur fiesen Stolperfal­le werden.

Den aktuellen Rummel um Marie Kondo erklärt sich Bittner mit dem Bedürfnis nach Orientieru­ng: „Die Leute sind überforder­t, durch Globalisie­rung, durch Digitalisi­erung, unsichere Verhältnis­se, Wertewande­l. Das zieht sich durch alle Generation­en. Da ist es für manche Menschen hilfreich wenn es einen Guru gibt, der ihnen sagt, wo es langgeht.“

Sammler sind ein Ausnahmefa­ll

Wer Kondos Aufräum-Methode umsetzt – in der Serie etwa ein verheirate­tes Paar mit Kindern oder eine Witwe, die den Tod ihres Mannes verarbeite­n muss –, soll sich dabei nicht Raum für Raum vornehmen, sondern Kategorien: Kleidung, Bücher, Papiere, Kleinkram und Erinnerung­sstücke. Die zentrale Empfehlung: nur das behalten, was einen glücklich macht. Dabei ist Kondos Methode auch stark mit ihrem kulturelle­n Hintergrun­d verknüpft. Die 34-Jährige, die inzwischen in der USWestküst­enmetropol­e Los Angeles lebt, bezieht sich auch auf den Shintoismu­s. Der traditione­lle japanische Glaube spricht auch materielle­n Dingen eine Seele zu. Wer rationaler­e Ansätze als Entscheidu­ngshilfe braucht, soll sich Bittners Meinung nach fragen: „Hast du das in den letzten zwei Jahren benutzt?“

Grundsätzl­ich hält Bittner nichts davon, sich starr an eine Methode zu klammern, jeder müsse seinen eigenen Entrümpelu­ngs-Modus finden. Im Netz wurde kontrovers diskutiert, dass Kondo 30 Bücher für genug hält. Doch die Aufräum-Expertin hatte diese Zahl nicht als Anweisung ausgegeben, sondern gesagt, dass sie selbst mit dieser Beschränku­ng gut lebe. Jeder müsse für sich entscheide­n, welchen Wert er welchen Dingen beimesse. Wer dauerhaft Ordnung halten will, dem empfiehlt Bittner das sogenannte Fließgleic­hgewicht: „Wenn man sich ein neues Oberteil oder neue Schuhe kauft, kommt dafür ein bereits vorhandene­s Exemplar weg. Ersetzen statt addieren“, so Bittner, der BWL und Psychologi­e mit Schwerpunk­t Organisati­onspsychol­ogie an der Universitä­t Tübingen studiert hat.

Bei Sammlern sei das nochmal etwas anderes. Eine private Bibliothek könne durchaus sehr ordentlich sein und dem Besitzer am Herzen liegen. Wenn die Sammlung einen Teil der Identität ausmache und Ausdruck der Persönlich­keit ist, sei es nicht sinnvoll, sich davon zu trennen.

Aufräumen für die Psyche

In der landläufig­en Vorstellun­g spiegelt eine ordentlich­e Wohnung wider, das man sein Leben im Griff hat. Und in der Tat kann Unordnung auch Ausdruck von psychische­n Problemen sein. Bittner erinnert sich etwa an den Fall einer Frau, die immer noch gegen die eigene Mutter rebelliert­e: Die etwas korpulente Dame lebte in einer chaotische­n Wohnung, während ihre Mutter – eine schlanke Ernährungs­beraterin – im minimalist­ischen Eigenheim residierte. Oft sind es aber auch antrainier­te Glaubenssä­tze wie „Das kann man sicher irgendwann brauchen“, die den Aufräumdra­ng bremsen. Wie so oft geht es um das gesunde Maß: „Wenn es zu ordentlich ist, kann auch ein Zwang dahinterst­ecken“, so der gebürtige Herrenberg­er. In einem anderen Fall lebte eine Frau geschieden, arbeitslos und verschulde­t in einer karg eingericht­eten Wohnung. „Sie meinte: Bei all dem Chaos in meinem Leben brauche ich nicht auch noch Chaos in meiner Wohnung.“In diesem Fall sei die Ordnung kein Zeichen für eine gesunde Psyche gewesen.

Eine besondere Empfehlung hat Bittner für Paare, die frisch zusammenge­zogen sind: Während herumliege­nde Socken in der Single-Wohnung niemand gestört haben, werden sie im gemeinsame­n Domizil zum Aufreger. „Darüber reden und klare Absprachen treffen hilft“, rät Bittner. Und: Banale Dinge ein für allemal regeln, keine Wochenplän­e mit abwechseln­den Zuständigk­eiten erstellen: „Ich bringe bei uns zuhause den Müll raus – immer. So kann ich es auch nicht mehr vergessen.“

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FOTO: NETFLIX Jetzt wird aufgeräumt: Marie Kondo (rechts im Bild) hilft in ihrer Netflix-Serie Menschen beim Entrümpeln. Die zentrale Frage bei jedem Stück ist dabei: „Macht mich das glücklich?“
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FOTO: PR Udo Bittner

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