Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Diplomat am Flügel
Das Label „audite“führt Tondokumente berühmter Pianisten in seinem Programm. Die Aufnahmen stammen überwiegend aus den 1960er-Jahren. Es sind Originalbänder von guter Qualität aus den Archiven von Rundfunkanstalten, manche schon in Stereo. Einen Schwerpunkt in diesem Sortiment bildet der kubanisch-amerikanische Virtuose Jorge Bolet (19141990), der sich vor allem als Liszt-Interpret einen Namen gemacht hatte. Die beiden ersten Lieferungen hatten dementsprechend auch einen Liszt-Schwerpunkt.
Jetzt ist die abschließende dritte Folge erschienen, drei CDs mit Aufnahmen des Senders Freies Berlin aus Charlottenburg. Darin findet sich ein Zyklus der Chopin-Etüden op. 25, eine eindrucksvolle Interpretation der selten gespielten 3. Schumann-Sonate, eine Auswahl von Balladen Griegs und der Images von Debussy. Die jüngste Aufnahme ist der Live-Mitschnitt von Beethovens 5. Klavierkonzert aus dem Jahr 1974 mit dem damaligen Berliner Radio-Symphonie-Orchester.
Bolet, so erfährt man im interessanten wie fundierten Booklet, war ein treuer Berlin-Besucher. Erstmals war er hier 1954 zu hören. Und sein letztes Konzert gab er – nach 63 Jahren Bühnenpräsenz – in der Berliner Philharmonie im Juni 1989, einige Monate vor dem Mauerfall. Vielleicht hätte ihn dieses Ereignis besonders gefreut. Denn Bolet, der in Havanna geboren wurde und bereits als 12-Jähriger zum Klavierstudium ans Curtis-Institut nach Philadelphia kam, hatte in den Jahren des Zweiten Weltkriegs eine Diplomatenkarriere angestrebt. Zunächst war er kubanischer Kulturattaché in Washington, dann wurde er amerikanischer Staatsbürger und ging in ähnlicher Funktion nach Tokio. Nach dem Krieg nahm er das Klavierstudium wieder auf und unterrichtete auch zeitweilig am Curtis-Institut, wo seine Ausbildung begonnen hatte. Seine internationale Bekanntheit begann spät: mit einem umfangreichen Plattenvertrag, den er als Sechzigjähriger einging. (man)
Jorge Bolet
Vol. III, Audite 21.459