Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Sprühende Fantasie
Cooler als London, wilder als Berlin – Ausgerechnet vom sauberen München aus eroberte die Graffiti-Bewegung Anfang der 80er-Jahre Europa
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arzan und Jane im Leo-Look flankiert von zwei Affen. Ein fetter, gelber „Boom!“Schriftzug an der Hauswand. Abstrakte Zeichen und rätselhafte Buchstabenkombinationen an Münchens Unterführungen und entlang der U-Bahn-Linie. Als Leonhard Rothmoser, Jonas Hirschmann und Roman Häbler, Gründer des Münchner Verlags „Klick Klack Publishing“, die Fotografien dieser einfachen, teils fehlerhaft gesprühten Bilder sahen, wussten sie sofort: Das ist ein wahrer Schatz. Denn sie markieren nichts weniger als den Beginn der Graffiti-Bewegung in Deutschland und Europa.
„Wir saßen im Wohnzimmer von Münchens erstem Sprüher-Anwalt Konrad Kittl. Eigentlich wollten wir von ihm mehr über die Gerichtsverfahren gegen Jugendliche erfahren, die er in den 80ern verteidigte“, erzählt Roman Häbler. Stattdessen zog der pensionierte Strafverteidiger sechs dicke Alben mit Fotografien heraus, die er bei Spaziergängen im Olympiapark, in Schwabing und in Milbertshofen vor mehr als 30 Jahren fotografiert hatte. „Obwohl wir uns in den Publikationen unseres Verlags intensiv mit dem Phänomen Graffiti beschäftigen und viele Old-SchoolBilder aus München kennen, waren uns diese unbekannt, denn sie waren noch älter“, erzählt Häbler.
Der inzwischen verstorbene Kittl war fasziniert von den Bildern, die da plötzlich – quasi über Nacht – an den jungfräulichen Wänden auftauchten. „Er begann sie zu fotografieren, ohne überhaupt zu wissen, dass dies Graffiti ist, denn das Phänomen war im Mainstream noch nicht angekommen.“
Das jetzt erschienene Buch „Zar Zip Fly Zoro. Die erste Schicht Graffiti in München“beschäftigt sich genau mit diesen, längst verschwundenen Werken aus der absoluten Beginner-Phase zwischen 1983 bis 1989. Es zeigt die Geburtsstunde des Graffitis, die Ur-Suppe, den chaotischen Untergrund, aus dem schnell ein Hype erwuchs, der von der Isar-Metropole nach und nach die Städte eroberte.
Hier wurde die erste S-Bahn besprüht und ging als „Geltendorf Train“in die Geschichte ein, hier gab es mit den Dachauer Flohmarkthallen die größte „Hall of Fame“Europas, auf der sich jeder legal austoben konnte. Nach München kamen Sprüher aus Amsterdam, New York und Paris.
Inspiriert von Rap und Hip-Hop
Warum ausgerechnet das saubere, reiche München den Nährboden für diese Subkultur bot, dafür gibt es viele Thesen. „München ist eine Residenzstadt mit viel Kunst. Dazu haben die Olympischen Spiele die Stadt graphisch und visuell geprägt – all das könnte den Jugendlichen ästhetischen Input gegeben haben“, erklärt Häbler. Eine Rolle habe sicher auch die amerikanische Besatzung gespielt. „Durch die US-Soldaten schwappte früh die Breakdance-Bewegung rüber, die jungen Leute hörten Rap und kamen so auch mit Graffiti in Berührung.“
Inspiriert von amerikanischen Hip-Hop-Filmen wie „Wild Style“und „Beat Street“zogen sie nachts los. Rebellierten gegen die Elterngeneration und die Mehrheitsgesellschaft. Eroberten die schmucke Stadt, suchten geeignete Plätze und den Kick, setzten Zeichen. So entstand auch das „Style-Writing“. „Die Sprayer gaben sich einen Kunstnamen, entwickelten einen Style dafür und verbreiteten ihn“, erklärt Häbler. Da waren Ray und Zoro oder aber Don M. Zaza, Cheech H., Blash, Roy, Roscoe, Zip und Cryptic2, der heute als Loomit international bekannt ist. Die sieben erlangten „Fame“, als sie besagten S-Bahn-Zug auf einem Abstellgleis in Geltendorf in voller Länge besprühten.
Von den professionellen, makellosen Graffitis unserer Tage waren diese ersten Bilder allerdings noch weit entfernt. Ausgefeilte Styles und Technik? Nix da. Die Farben? Vogelwild. Gesprüht wurde mit einfachen Farblackdosen, die für Autos vorgesehen waren. „Sie haben getropft, schlecht gedeckt. Man hatte nicht 15 verschiedene Sprühaufsätze. Um besser zu werden, musste man üben – den Platz dafür gab’s.“Die Stadt war ein Abenteuerspielplatz. Nicht jeder kleinste Quadratmeter plakatiert, beleuchtet, videoüberwacht.
Die Lust am Experiment
Die Jugendlichen kamen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten, gehörten der Punk-, HipHopoder Comicszene an und haben ohne Vorwissen frei aus dem Kopf heraus gemalt. „Sie hatten kein Internet, nicht schon hundert Bücher und Magazine gelesen – und waren gerade deswegen so kreativ“, beschreibt Häbler. Die Lust am Experiment mit Farbe und Form, die Ehrlichkeit, Energie und Impulsivität, die in Bildern rüberkomme, haben ihn und seine Kollegen begeistert. „Die Kids sind einfach rausgegangen und haben gesagt: Hier soll mein Bild sein und wenn es nach zwei Wochen weggemacht wird, oder jemand drüber sprüht, ist das okay.“
Um den Ursprung des Graffitis in München zu beleuchten, durften die Verlagsgründer nicht nur auf das Archiv von Konrad Kittl, sondern auch auf die Fotos des emeritierten Volkskundeprofessors Peter Kreuzer zurückgreifen. Kreuzer dokumentierte ab 1986 für das Stadtarchiv-Projekt „Alltag in München“die Werke der sich entwickelnden Szene, veröffentlichte das „Graffiti-Lexikon“und hielt die ersten Vorlesungen über die Jugendkultur. Später gründeten Kittl und Kreuzer die Europäische Graffiti Union (EGU), die sich für die Interessen der Sprüher einsetzte, Sprühflächen legalisieren ließ und somit für die erste Generation der Writer den Weg ebnete.
Urbanität? Fehlanzeige
Doch wie geht die Stadt heute mit dieser Bewegung um, für die es in der Öffentlichkeit meist nur zwei Schlagworte gibt: Kunst oder Vandalismus? „In allen Städten, in denen es an Wohnraum mangelt und viel modernisiert wird, fehlen Flächen, auf denen Graffitis geduldet werden und die Writer einfach mal drauf los sprühen können“, sagt Häbler. Doch im Vergleich schneide München besonders schlecht ab. „Alles, was wild, rebellisch und subversiv angehaucht ist, findet nur im reglementierten, eventisierten Rahmen statt – und dient irgendwelchen Interessen.“
Wenn Berufs-Sprüher im Auftrag der Stadt eine schmutzige Unterführung gestalten und sogar die Oma begeistert stehen bleibe, werde das als Win-win-Situation vermarket. Werde eine Hausfassade von einem berühmten Graffiti-Künstler dekoriert, sei es große Kunst. „Aber der Schriftzug an der Wand, das implizit politische und im ersten Moment nicht so leicht Verständliche, wird als Störelement und Schmiererei abgetan. Alle Graubereiche dazwischen, die so spannend sind, werden ausgeblendet.“
Auch die städtische Internetseite „muenchengraffiti.de“, die über Street-Art in München informiert und von „Klick Klack Publishing“mitkonzipiert wurde, ist gerade offline. Angeblich wurden zu viele illegale Graffitis gezeigt. „Dabei glorifizieren wir Sachschaden nicht, sondern dokumentieren unabhängig. Und wenn acht von neun Sprühern sagen: Dieser bemalte Zug war das relevanteste Bild 2001, nehmen wir es natürlich auf.“Die junge Szene schaut sowieso in die Röhre. Überraschungsmomente durch Graffitis gebe es im Alltag kaum noch, sagt Häbler. „Damit wird München nicht nur langweilig, sondern verliert auch den Spirit, der Urbanität ausmacht.“