Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Fake News vor 25 Jahren: Cäsium im Bodensee
Wie ein Cessna-Absturz und eine Falschmeldung der „Bild“-Zeitung für Angst und Panik sorgten
FRIEDRICHSHAFEN - „Das ist eine unglaubliche Schweinerei!“Mit markigen Worten bringt Bergungsleiter Hans Fricke am 7. Februar 1994 seinen aufgestauten Frust zum Ausdruck. Aus 160 Metern Tiefe hatten er und sein Team kurz zuvor die Überreste einer Cessna vom Grund des Bodensees geborgen. Eigentlich ein Erfolg – aber an Bord des für die Sensationsbergung extra gecharterten Journalistenschiffes lässt Fricke danach kein gutes Haar an der „Bild“. Auch heute noch ist er empört über das, was damals geschehen ist. „Der Journalist sollte sich schämen. Er hat das alles einfach erfunden und damit Menschen gefährdet.“
Was war passiert? Am 24. Januar 1994, einem bewölkten Montag, verschwindet ein Flugzeug vom Typ Cessna 425 urplötzlich über dem Bodensee. Um 19.15 Uhr hat der Pilot zuletzt Kontakt mit dem Tower in Altenrhein. Er meldet keine Probleme. Eigentlich soll der Flieger aus Prag dort landen, allerdings reißt nach dem letzten Funkspruch jeder Kontakt ab. Die Maschine kommt nie in Altenrhein an. In den nächsten Tagen laufen bei Sturm und Regen große Suchaktionen auf dem Bodensee. Ergebnislos. Gleichzeitig kommen die ersten Gerüchte um die Insassen des Fliegers auf. Die Deutsche Presseagentur berichtet von drei Männern und einer Frau, die Kantonspolizei in St. Gallen weiß von einem 44-jährigen Piloten aus Köln. Laut Schweizer Flugsicherung kommen die Passagiere aus dem norddeutschen Raum. Wirklich gesichert ist bis dahin nur, dass die Cessna in Prag gestartet war.
Am Wochenende schlägt dann die Bombe ein. Die „Bild“-Zeitung titelt in der Samstagsausgabe vom 29. Januar: „Absturz! 70 Kilo Atom im Bodensee?“Sie löst damit rund ums Ufer schlagartig panische Reaktionen aus. „Die Leute hatten schlicht und einfach Angst um ihr Trinkwasser“, erinnert sich Heinz Gerd Schröder. Gemeinsam mit seinem damaligen Forscherkollegen Herbert Löffler sitzt er vor einem Stapel Akten, Zeitungsausschnitten und Büchern am großen Wohnzimmertisch in Löfflers Haus. Die beiden Pensionäre leiten 1994 für das Seenforschungsinstitut in Langenargen die spätere Ortung der vermissten Cessna. „Vorher war das für uns ein ganz gewöhnlicher Flugzeugabsturz, wie er damals öfter über dem Bodensee vorkam“, sagt Löffler. „Als dann aber die CäsiumGerüchte aufkamen, hat es uns betroffen.“Neben dem Institut schaltet sich schnell das Landesumweltministerium ein. Dutzende Proben vom Bodenseewasser werden genommen – alle durchweg negativ. Die Gerüchte reißen allerdings nicht ab.
Stasi und die Russenmafia
Besonders die Zusammensetzung der Besatzung birgt weiter Sprengstoff. Klar ist inzwischen, dass zwei Geschäftsleute aus Berlin an Bord waren. Dazu zwei Frauen aus Tschechien, der Kölner Pilot – und ein Hund. Die „Bild“bleibt trotz negativer Proben weiter bei der Cäsium-Geschichte und berichtet von einem Mafia-Millionendeal. Die beiden Geschäftsleute sollen in Riga Cäsium gekauft haben, einer der beiden sei von der Russenmafia entführt und soll gegen Lösegeld freigelassen worden sein. Beiden werden außerdem Verbindungen zur Stasi nachgesagt, die Frauen aus Tschechien sollen aus dem Rotlichtmilieu kommen. Der Einzige, dem im Verlauf der nächsten Tage keine halbseidenen Verbindungen angedichtet werden, ist der Hund. Die „Bild“stützt sich bei diesen Gerüchten auf angebliche Aussagen der Lebensgefährtin des Piloten. Später wird sie dementieren.
Tatsächlich ist einer der beiden Berliner, der Bauunternehmer Josef Rimmele, polizeibekannt. Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung. Möglicherweise ein Grund dafür, dass die wilderen Gerüchte für bare Münze genommen werden. Die St. Gallener Kantonspolizei etwa bestätigt am 31. Januar, dass die beiden Berliner „definitiv in den Handel mit radioaktiven Stoffen“verwickelt seien. Ein weiteres Gerücht bringt der Südwestfunk in Umlauf: Ein Zeuge will gesehen haben, wie die Maschine knapp über dem See abgedreht und weitergeflogen sei. Flugexperten zweifeln die Theorie allerdings schnell als unrealistisch an.
Gänzlich ins Reich der Fantasie verwiesen wird diese Darstellung dann durch die Ortung der Cessna in 160 Metern Tiefe vier Kilometer vor dem schweizerischen Rorschach. „Am 1. Februar haben wir um 17.11 Uhr das Signal des Sonars empfangen“, sagt Heinz Gerd Schröder und blättert in seinen Unterlagen zum Abbild der Flugzeugumrisse. „Das war natürlich Glück.“Tagelang zog das Forschungsschiff des Seenforschungsinstituts vorher seine Bahnen über den See. Die Identifizierung erfolgt per Kamera. Auf Videobildern, die der „Schwäbischen Zeitung“vorliegen, ist deutlich die Seriennummer DIEFW zu erkennen.
Leeres Flugzeug, offene Luke
Obwohl die „Bild“-Zeitung zuerst wieder das Gegenteil vermeldet, Leichen sind keine an Bord. „Das war deutlich zu erkennen. Die ,Bild’ hat auch gleich berichtet, das Wrack sei voller Algen. In einer solchen Tiefe gibt es die aber gar nicht“, sagt Herbert Löffler. In seinen Unterlagen hat er auch die Berichte anderer Medien gesammelt. „Die ,Schwäbische Zeitung’ hat ordentlich berichtet, der ,Stern’ auch“, erinnert er sich. Auf das größte deutsche Boulevardblatt sind Löffler und Schröder aber auch heute noch sauer. „Wir haben bei keiner Messung Cäsium 137 gefunden, auch im Wrack nicht. 70 Kilo hätten die Passagiere ohnehin nie transportieren können. Das führt entweder innerhalb von Minuten zum Tod oder hätte durch so viel Blei abgeschirmt werden müssen, dass die Maschine nie abgehoben wäre“, sagt Schröder. Der „Bild“-Reporter habe sich das alles einfach aus den Fingern gesogen: „Das waren Fake News erster Sahne.“
Nach der Ortung verzögert sich witterungsbedingt die Bergung um einige Tage. Am 7. Februar ist es dann aber so weit. Um 12.23 Uhr berichtet Hans Fricke der Schweizer Polizei: „Flugzeug ist gehoben.“Fricke ist eigentlich Verhaltensforscher und Biologe am Max-Planck-Institut in München, bekannt für seine Forschungen zu Quastenflossern. Mit seinem extrem leistungsfähigen Tauchboot Jago ist er der Mann für schwierige Unterwasserbergungen. Tags zuvor hatte das Team ein Seil um die Cessna gelegt. Die Bergung selbst erfolgt dann mit einem Ponton und einer Winde, das Flugzeug wird einige Meter unter Wasser hängend Richtung Ufer geschleppt. Verfolgt wird die Aktion von Hunderten Schaulustigen am Ufer, mehrere Dutzend Journalisten drängen sich zusammengepfercht auf dem gecharterten Journalistenschiff. Weil immer alle auf einer Seite stehen, hängt der Kahn schief im Wasser.
Die Untersuchungen des Wracks ergeben: Der Pilot hat eine vorbildliche Notwasserung vollbracht. Leere Sitze und eine offene Luke zeigen, dass die Besatzung den Flieger verlassen hat. An Bord werden Koffer und Schminkkoffer entdeckt, dazu Unterlagen und Kleidung von Geschäftsmann Josef Rimmele. Keine Spur von Cäsium. Die Gerüchteküche brodelt trotzdem weiter, schließlich fehlen die Leichen. Wurden die Insassen mit einem Boot abgeholt, haben sie es schwimmend zum Ufer geschafft? Sind die Mafiaschergen untergetaucht? Tief unten am Seegrund finden Schröder, Löffler und ihr Team Tage später drei Leichname. Es handelt sich, wie die Staatsanwaltschaft Ravensburg später berichtet, um Josef Rimmele, Alena Petrusova und Klaus Paul Arthur Eichler, den zweiten Geschäftsmann aus Berlin. Die Todesursache: „Unterkühlung mit finalem Ertrinken“.
Videobilder des Seenforschungsinstituts zeigen die Entdeckung eines der Toten. Für Herbert Löffler, der die Bilder live vom Forschungsschiff aus beobachtete, ein harter Moment. „Da brauchst du starke Nerven. Aber in dem Moment blendet man alles aus und macht seine Arbeit.“
Anhaltspunkte für technische Fehler als Unfallursache gehen aus dem Bericht der Staatsanwaltschaft keine hervor. Es wird darin auf noch ausstehende Untersuchungen des Luftfahrtbundesamts verwiesen – die sind allerdings heute nicht mehr auffindbar. Auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“antwortet die Behörde: „Die Untersuchungsakte lagert im Keller, jedoch ohne die Ablage des Untersuchungsberichtes. Leider kann nicht mehr nachvollzogen werden, warum die Akte keinen Bericht mehr beinhaltet.“Trotz intensiver Suche habe man die Papiere nicht mehr finden können.
Die Suche nach den restlichen Leichen verläuft 1994 ergebnislos. Am 22. Februar titelt die „Schwäbische Zeitung“: „Der Krimi um die notgewasserte Cessna ist zu Ende – Staatsanwalt stellt Suche nach weiteren Leichen ein“. Der 44 Jahre alte Pilot Rudolf Wierschem, Yvetta Ranetova und der Hund bleiben verschwunden. Von beiden Menschen werden allerdings persönliche Gegenstände gefunden, vom Hund das Futter.
Die Gerüchte fallen im Bericht der Staatsanwaltschaft in sich zusammen. Dass Rimmele und Eichler „beim Handel mit sog. ,wertvollen’ Metallen aufgefallen waren“, steht zwar im Bericht. Alles andere erweist sich aber als haltlos. Aufgrund der Witterung sei davon auszugehen, dass die vermissten Personen ebenfalls verstorben seien. Im letzten Absatz steht das entscheidende Ergebnis: „In dem Flugzeug befand sich keinerlei strahlendes Material.“
Der Bericht bestätigt also das, was Fricke, Löffler und Schröder nach wie vor kaum fassen können: Die Geschichte ums Cäsium war frei erfunden. Die Bergung, da sind sich die Forscher sicher, hätte ohne die Gerüchte nicht stattgefunden. Stattdessen wurden Menschen und Maschinen in Gefahr gebracht, die Bevölkerung war tagelang verunsichert. Auf eine Entschuldigung der „Bild“warten alle drei bis heute.
Bilder und mehrere Videos zu dem Thema finden Sie unter www.schwäbische.de/cessna1994
Hans Fricke arbeitet derzeit an einem Buch zu seinen Forschungen. Ein Kapitel widmet sich der Bergung der Cessna 425: „Ein Medienschlager, der in Hysterie ausartete.“
„Absturz! 70 Kilo Atom im Bodensee?“
Die alarmierende Schlagzeile der „Bild“.Zeitung
„Als dann aber die Cäsium-Gerüchte aufkamen, hat es uns betroffen.“
Herbert Löffler vom damaligen Bergungsteam