Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Kretschmann einfach kopieren funktioniert nicht“
Grünen-Chefin Annalena Baerbock spricht über die Ost-Strategie ihrer Partei – und die Hürden für Schwarz-Grün
RAVENSBURG - Seit gut einem Jahr ist Annalena Baerbock Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Im Interview mit Helena Golz, Hendrik Groth und Jochen Schlosser sagt sie, warum Horst Seehofer aus ihrer Sicht kein richtiger Heimatminister ist, welche Ergebnisse sie sich bei den anstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg wünscht – und warum sie momentan von der CDU-Spitze enttäuscht ist.
Frau Baerbock, Schwarz-Grün regiert in Baden-Württemberg seit 2016 erfolgreich. Ist das „System Winfried Kretschmann“ein Vorbild für die Grünen bundesweit geworden?
Die Stärke von Winfried Kretschmann ist, dass er als Ministerpräsident die Menschen und die Region wirklich ernst nimmt, zuhört und ansprechbar ist. Diese Authentizität ist vorbildhaft. Aber einfach kopieren funktioniert nicht. Gerade, weil die Regionen auch vor ganz unterschiedlichen Herausforderungen stehen. Bei mir in Brandenburg, in den strukturschwachen Regionen, findet man als Frau so gut wie keine Hebamme. Da hilft es wiederum sehr, als Mutter zweier kleiner Kinder zu wissen, was das für Frauen bedeutet und dieses Thema ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen.
Die große Herausforderung für die Grünen werden die Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Herbst sein. Warum tun sich die Grünen in den ostdeutschen Bundesländern schwer?
Wir haben lange Zeit das Problem gehabt, dass wir in strukturschwächeren Regionen, wie in Ostdeutschland, nicht so stark überzeugen konnten. Die Menschen waren dort lange mit Arbeitsplatzverlust oder Niedriglöhnen konfrontiert und haben bei der Lösung ihrer Probleme nicht zuerst an die Grünen gedacht. Zum anderen sind wir aus der Bürgerrechtsbewegung in der DDR entstanden, bei der viele Menschen gesagt haben, dass sie aufgrund der Erfahrungen, die sie gemacht haben, nie wieder in eine Partei eintreten wollen. Aber auch das ändert sich. Wir haben im letzten Jahr deutschlandweit einen enormen Mitgliederzuwachs gehabt – besonders in Ostdeutschland. Gerade mit Themen wie der Entwicklung des ländlichen Raumes oder der Versorgung mit Kitas und Hebammen können wir dort punkten.
Was ist Ihr Ziel für die Wahlen im Osten, nachdem Sie bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen Rekordergebnisse eingefahren haben?
Wir werden sicherlich nicht in Sachsen, Thüringen oder Brandenburg wie in Hessen 20 Prozent erreichen, aber unser Anspruch ist schon, dass wir Richtung Zweistelligkeit gehen. Außerdem hat sich das Parteienspektrum verändert. Es ist also davon auszugehen, dass es in den Ländern verstärkt Dreierbündnisse geben wird, und da wird es sicherlich in dem einen oder anderen Bundesland bei der Regierungsbildung auf Grüne ankommen. So wie in Thüringen, wo wir ja mitregieren.
Wie sieht es im Bund aus? Planen Sie mit vorgezogenen Bundestagswahlen oder glauben Sie, die große Koalition hält durch?
Diese ständige Neuwahl-Spekulation hat noch niemandem in diesem Land geholfen. Regierungen sind dafür gewählt, die Probleme ihrer Zeit anzugehen. Der Innenminister hatte groß angekündigt, für gleichwertigere Lebensverhältnisse im ländlichen Raum zu sorgen. Dort fühlen sich ja etliche Menschen nicht nur abgehängt, sondern sie sind es auch, wenn kein Bus und keine Bahn mehr fährt. Über die Schlagzeile ‚Heimatministerium‘ ist Herr Seehofer aber leider nicht hinausgekommen, weil er ständig rumpoltern musste. Ich bin froh, dass offensichtlich die beiden Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer und Andrea Nahles verstanden haben, dass dieses Regierungschaos unserer Demokratie im Ganzen schadet. Daher hoffe ich sehr, dass man sich in der Großen Koalition jetzt wirklich der Arbeit widmet.
Aber am vergangenen Wochenende haben Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Katrin Göring-Eckardt (Grüne) der „Bild am Sonntag“ein gemeinsames Interview gegeben und über eine schwarz-grüne Koalition gesprochen, die sie sich vorstellen können. „Wir können ganz gut miteinander“, hat Annegret KrampKarrenbauer da gesagt.
Dass man sich in der Politik respektvoll und gern auch mal mit einem Lächeln auf den Lippen begegnet, statt so eine männliche Hau-drauf-Mentalität zu zeigen, ist wichtig für unser demokratisches Miteinander, gerade in Zeiten, in denen gesellschaftlich sehr grob ausgeteilt wird. Aber Friede, Freude, Eierkuchen gibt es auch zwischen grünen und schwarzen Frauen nicht. Dieser harmonische Eindruck, den Sie andeuten, der lag sicherlich auch an der Aufmachung in der Zeitung mit den Fotos. Wir Grünen jedenfalls haben keine Koalitionspartner in spe. Mich hat übrigens manches Verhalten, zuletzt auch von der neuen CDU-Vorsitzenden, dann doch eher irritiert: Zum Beispiel, dass es keine klare Positionierung der CDU dazu gibt, dass Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei noch Teil der Konservativen in Europa sind.
Dabei fangen die Differenzen viel früher an. Die Union hat doch schon ein Problem mit dem Klimaschutzgesetzentwurf von Umweltministerin Schulze (SPD), der von einem grünen Entwurf ja wohl noch getoppt werden würde.
In der Tat kommen von der Union beim Thema Klimaschutz seit Jahren nur Lippenbekenntnisse. Ich hoffe sehr, dass sie beim Klimaschutzgesetz jetzt endlich zur Besinnung kommt. Denn das ist keine grüne Erfindung und auch keine Erfindung des Bundesumweltministeriums, sondern das ist die Umsetzung des Pariser Klimavertrags, und den hat diese Bundesregierung unterschrieben, so wie mehr als 190 andere Staaten dieser Welt. Wenn wir das jetzt nicht angehen, dann ist das nicht nur dramatisch mit Blick auf die Klimakrise, sondern auch fatal für den Industriestandort Deutschland. Er muss doch Technologien für die Zukunft entwickeln und braucht dafür Verlässlichkeit und Planungssicherheit.
Aber noch mal: Macht das dann nicht eine Koalition mit der CDU unmöglich?
Einfacher jedenfalls nicht.
Nehmen wir an, es klappt nicht mit Schwarz-Grün. Glauben Sie, bei neuen Verhandlungen wäre es mit der FDP leichter zum Abschluss zu kommen?
Für Grüne und FDP allein reicht es ja nun schon zahlenmäßig überhaupt nicht. Ich finde es aber auch grundsätzlich echt müßig, ständig darüber zu reden, wie welche Verhandlungen stattfinden könnten. Gerade stehen drängendere Fragen an: Wir haben eine nukleare Bedrohung mitten in Europa – das ist ein Thema, über das wir seit 20 Jahren nicht gesprochen haben, um die Dimension mal deutlich zu machen. Mich bewegt dieser Tage also, wie wir den Abrüstungsvertrag retten – und nicht Schwarz-Grün oder irgendwelche anderen Farbspielchen. Klar ist ohnehin: Wir treten für unsere Inhalte an, reden als Demokraten nach den Wahlen mit allen demokratischen Parteien und sehen, mit wem wir die Dinge am besten anpacken können. Und wenn man feststellt, man kann in bestimmten Konstellationen nichts verändern oder muss mehr Schlechtes mittragen als man Gutes erreicht, dann macht eine Regierungskoalition eben keinen Sinn.
… die Aussage könnte auch von Christian Lindner (FDP) kommen.
Nee. Herr Linder hat ja nicht aus inhaltlichen Gründen gebockt, sondern er wollte aus strategischen Gründen nicht Verantwortung übernehmen. Aber das ist auch Schnee von gestern. Ich mache Politik, um zu verändern. Und das funktioniert natürlich am besten, wenn man Verantwortung trägt.