Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Freiheit, Schutz und Fortschritt
Der französische Präsident weiß um den Wert von Pathos und Inszenierung. Nach seinem Wahlsieg gegen die Rechtsradikale Marine Le Pen trat Emmanuel Macron zu den Klängen von Beethovens Ode an die Freude vor seine Anhänger, erst dann wurde die Marseillaise geschmettert. Jetzt warnt Macron davor, nicht Schlafwandler in einem erschlafften Europa zu sein und nimmt so eine Anleihe am großen Erfolg des Historikers Christopher Clarke, der den Bestseller schrieb: „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“.
Macron ist es ernst. Er weiß, dass der Kontinent vor entscheidenden Weichenstellungen steht und sich das Friedensprojekt Europäische Union in großer Gefahr befindet. Macron will deshalb eine tiefgreifende EU-Reform.
Es ist an der Zeit, dass Deutschland sich dieser Initiative anschließt, anstatt sich über schlechte Karnevalswitze oder im Detail unsinnige Zeitumstellungspläne zu echauffieren.
Wer jetzt im Sinne der Komplexität der EU oder getreu der Sachlichkeit einer Angela Merkel argumentiert, zunächst sollten doch erst einmal alle Argumente Macrons gewogen, gewichtet und anschließend für schlecht, irgendwie okay oder doch etwa als sehr gut bewertet werden, der verkennt die Situation. Und ja, Macron steht auch innenpolitisch unter Druck, doch sein Handeln als Reaktion auf die Proteste der Gelbwesten zu verkürzen, ist unlauter.
Trotz weltweit bewunderter und beneideter Erfolge fehlt der EU in Teilen der europäischen Bevölkerung die Akzeptanz. Russland und auch die USA bemühen sich mit Geld und Propaganda, dieses Unverständnis zu ihren Gunsten zu verstärken.
Doch auch verantwortungsbewusste Politik darf sich der Emotionen bedienen. Die EU ist eben nicht nur ein für manche Zeitgenossen „seelenloser Binnenmarkt“, sie ist, wie Macron schreibt, viel mehr: Freiheit, Schutz und Fortschritt. Das klingt sehr nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, dem französischen Schlachtruf, der seit 1789 die Welt bewegt. Macron kennt eben die Macht der Worte und der Gefühle.