Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Quasselstrippen im Sattel
„The Sisters Brothers“von Jacques Audiard wirft einen neuen Blick auf eine alte Filmgattung
Immer, wenn man glaubt, der Western läge tot im Staub von Abilene, zieht irgendjemand irgendwo auf der Welt einen Colt. Im vergangenen Herbst bewarben sich „The Ballad of Buster Scruggs“von den Coen-Brüdern und Jacques Audiards „The Sisters Brothers“in Venedig um den Goldenen Löwen – beide von der Kritik überwiegend gefeiert, beide in mehrfacher Hinsicht aus ganz unterschiedlichem Holz geschnitzt. „Buster Scruggs“war eine Netflix-Produktion, die Sisters-Brüder reiten nun in die Kinos.
Oregon, 1851, das Land an der Westküste ist noch kein Bundesstaat der jungen USA. Die beiden namengebenden Brüder Charlie (Joaquin Phoenix) und Eli (John C. Reilly) sind Revolverhelden im Dienste eines geheimnisvollen „Commodores“(Rutger Hauer, „Blade Runner“, kaum zu erkennen). Sie sind einem diebischen Goldsucher namens Hermann Kermit Warm (Riz Ahmed) auf der Spur, der glaubt, eine Formel zu besitzen, die es erleichtert, Gold zu finden – der große Goldrausch in Kalifornien liegt erst einige Jahre zurück. Weiter im Spiel ist ein Detektiv (Jake Gyllenhaal). Im Laufe des Film treffen sie aufeinander, was nicht gut ausgeht.
Mehr als nur Western-Stereotype
Hüte, Pferde, Saloons: ein Western also. Äußerlich sind die Stereotype schnell da, doch „The Sisters Brothers“ist ein wenig anders; man meint, den Blick von außen auf das uramerikanische Genre zu spüren. Regisseur Jacques Audiard („Ein Prophet“, „Der Geschmack von Rost und Knochen“, Goldene Palme in Cannes für „Dämonen und Wunder“, 2015) ist Franzose – aber einige der schönsten und besten Western stammen bekanntlich nicht von Amerikanern. Hier genügt der Name des Italieners Sergio Leone. Und wie Leone gehört es zum europäischen Blick auf den Weste(r)n, ihm gleichzeitig zu huldigen und ihn zu dekonstruieren – Western und Meta-Western zugleich.
Audiard reiht sich da ein, wenn auch ganz anders als etwa die ItaloFilmemacher. Sein Film, den er zusammen mit Thomas Bidegain auch geschrieben hat (auf der Grundlage eines 2011 erschienenen Romans von Patrick deWitt), ist außergewöhnlich dialogstark – keine wortkargen Helden, sondern eher Quasselstrippen im Sattel, die abends am Lagerfeuer schräge Unterhaltungen führen. Zum Außenblick gehört auch die Kulisse: Audiard hat den Film nicht an Originalschauplätzen – was immer das auch hieße – gedreht, sondern setzt sein mythologisches USABild künstlich aus Rumänien und Spanien zusammen. Selbst ein spanischer Themenpark „Texas Hollywood“diente bezeichnenderweise als Drehort. Ein Film über Grenzen, die Frontier, und über Zeitenwechsel. Etwa wenn die zunächst durchaus schlicht gestrickten Brüder beginnen, über ihre Herkunft aus einer Familie mit brutalem Vater und ihre damit verbundene Neigung zur Gewalt zu reflektieren.
Zwischen Komödie und Western
Dramaturgisch bewegt sich „The Sisters Brothers“zwischen den Polen Komödie, Action und klassischem Western mit allen Ingredienzien: Zeitporträt und soziologischer Studie einer Macho-Branche, trivialem Genre hier und intellektuellem Hinterfragen da.
Sorgfältig ausgewählt wurden auch die Schauspieler: Vor allem John C. Reilly, der Jacques Audiard vor einigen Jahren auf den Stoff aufmerksam machte, und Joaquin Phoenix tragen die Story mit ihrer Präsenz und ihrem lakonischen Witz. Allein die Szene, in der Reilly als Charlie zum ersten Mal in seinem rauen Leben eine Zahnbürste benutzt, ist eine Trouvaille. Charlie und Eli halten den vielschichtigen Film zusammen, wenn er auszufransen droht. Erwähnt werden sollte noch die ausdrucksstarke Musik von OscarPreisträger Alexandre Desplat.
„The Sisters Brothers“erhielt bei den französischen Césars neun Nominierungen und vier Preise (Regie, Kamera, Ausstattung, Ton) sowie in Venedig einen Silbernen Löwen für Audiards Regieführung – verdiente Auszeichnungen für einen neuen Blick auf eine alte Filmgattung.
„The Sisters Brothers“, Frankreich, Belgien, Rumänien, Spanien 2018, Regie: Jacques Audiard, 121 Minuten, FSK ab 12 Jahren. Mit John C. Reilly, Joaquin Phoenix, Riz Ahmed, Rutger Hauer.