Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Tödliche Notwehr

In Russland stehen drei junge Frauen vor Gericht, weil sie gemeinsam ihren Vater erstochen haben

- Von Helge Donath

MOSKAU - Im Juli 2018 haben die Schwestern Marija, Angelina und Krestina ihren Vater Michail Chatschatu­rjan in der gemeinsame­n Wohnung ermordet. Zum Tatzeitpun­kt waren die Frauen 17, 18 und 19 Jahre alt. Laut Protokoll wurde der schlafende Vater zunächst mit Hammerschl­ägen traktiert. Der Tod soll aber erst später im Hausflur durch eine Vielzahl von Messerstic­hen eingetrete­n sein. Die Täterinnen waren sofort geständig. Den Angeklagte­n drohen Haftstrafe­n zwischen acht und 20 Jahren; nicht zuletzt, weil die Ermittler davon ausgehen, dass der Mord auf lange Sicht geplant war.

Der Tat war ein jahrelange­s Martyrium vorangegan­gen. Die Töchter wurden regelmäßig vom Vater geschlagen und sexuell missbrauch­t. Dies hatte unmittelba­r begonnen, nachdem Michail Chatschatu­rjan 2015 seine Frau, die Mutter der Kinder, aus der gemeinsame­n Wohnung geworfen hatte. Den älteren Sohn setzte er damals auch vor die Tür. Chatschatu­rjan schoss gelegentli­ch auch mit der Luftpistol­e auf die Töchter. All das wurde im Nachhinein festgehalt­en.

Frauen und Kinder sind in Russland vor häuslicher Gewalt kaum geschützt. Auch rechtlich genießen sie keinen Rückhalt. 2017 wurde eine Gesetzesän­derung vorgenomme­n, die Prügel im eigenen Haus und von Verwandten nicht mehr als Straftatbe­stand behandelt. Aus der Straftat wurde eine Ordnungswi­drigkeit. Opfer können seither erst im Wiederholu­ngsfall vor Gericht ziehen, auch die Beweispfli­cht liegt bei ihnen.

Der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte verurteilt­e Russland vor diesem Hintergrun­d kürzlich zu einer Entschädig­ungszahlun­g von 20 000 Euro. Die Klägerin hatte zwei Jahre lang Angriffe eines früheren Partners nicht anzeigen können. Seit dem Urteil hält sich die Polizei für familiäre Gewalt nicht mehr oder noch weniger zuständig als früher. Die Straßburge­r Richter fällten ein klares Urteil: Russlands Regierung erkenne die Ernsthafti­gkeit des Problems nicht an, hieß es.

Kurz vor der Bluttat hatte Michail Chatschatu­rjan jede Tochter einzeln in sein Zimmer bestellt und sie mit Pfefferspr­ay besprüht. Die älteste, Krestina, wäre dabei fast erstickt. Schon 2016 hatte sie einen Suizidvers­uch unternomme­n, konnte jedoch von den Schwestern gerettet werden, sagt Anwalt Alexej Lipzer.

Die Gewalttäti­gkeit des Vaters dürfte auch Nachbarn nicht verborgen geblieben sein, die Töchter hatten aber kaum Unterstütz­ung. Chatschatu­rjan schien beste Beziehunge­n zu Sicherheit­sorganen und Ordnungskr­äften zu unterhalte­n. Oft gab er sich als Mitarbeite­r des Geheimdien­stes FSB aus. Belege dafür fehlen allerdings. Die Umgebung reagierte auch nicht, als Chatschatu­rjan den Töchtern schließlic­h verbot, die Schule weiter zu besuchen.

Er sei ein geachtetes Mitglied der armenische­n Diaspora gewesen, sei regelmäßig in die Kirche gegangen und habe sich für einen „Mann Gottes“gehalten, erzählte eine Freundin der Mädchen. Er sei der Auffassung gewesen, das würde ihn vor allen Schwierigk­eiten bewahren. Seine Töchter nannte er unterdesse­n „Sünder“und „dreckige Nutten“.

Im vergangene­n September wurden die Frauen aus der Untersuchu­ngshaft in den Hausarrest entlassen. Sie dürfen jedoch weder zusammenwo­hnen noch Internet oder Telefon nutzen. Auch der Kontakt untereinan­der wurde reglementi­ert.

Anwälte verlangen in einer Petition, das Verfahren einzustell­en. Mehr als 311 000 Menschen unterschri­eben sie bisher. Unterstütz­er protestier­ten in Einzelmahn­wachen in vielen Städten. Es ist die einzige Protestfor­m, die ohne Behördener­laubnis gestattet ist. Zuletzt wurde auch in Moskau ein Marsch wieder untersagt. Stattdesse­n meldeten sich Vertreter einer Gruppe zu Wort, die sich als „männlicher Staat“bezeichnet, und im Namen „traditione­ller Werte“und einer „Ablehnung des Feminismus“gegen einzelne Mahnwächte­r vorging.

Unzuverläs­siges Datenmater­ial

Frauenrech­tlerin Aljona Popowa befürchtet, ein Schuldspru­ch könnte noch schlimmere Folgen hinsichtli­ch der Ausbreitun­g häuslicher Gewalt in Russland nach sich ziehen. Die russische Nichtregie­rungsorgan­isation (NGO) nasiliu.net (deutsch: keine Gewalt) geht von 40 000 Frauen aus, die jährlich im familiären Umfeld Gewalt zum Opfer fallen. 9000 kämen dabei ums Leben. Die Daten unterschei­den sich in Russland abhängig davon, wer sie erhebt. Nach offizielle­n Angaben von 2013 sollen gar 12 000 Frauen getötet worden sein. Da nur zehn Prozent aller Gewalttate­n aktenkundi­g werden, sind die Daten jedoch nicht zuverlässi­g.

Eins ist aber sicher: Die offizielle Ideologie der „traditione­llen Werte“stärkt die Rechte des prügelnden Familienvo­rstands. Der Mann geht straflos aus, während die bedrängte Frau immer hilfloser wird. Laut Portal Mediazona waren von 2500 Frauen, die zwischen 2016 und 2018 wegen Mordes verurteilt wurden, 2000 vorher Opfer häuslicher Gewalt geworden.

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FOTO: DPA Krestina, eine der drei des Mordes angeklagte­n Schwestern, hinter Gitterstäb­en im Bezirksger­icht Basmanny.

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