Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Der Triumph des Käfers

Dass Egan Bernal die Tour gewinnen würde, galt als ausgemacht – so früh hatte aber nicht mal er damit gerechnet

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PARIS (SID/dpa) - Egan Bernal lag goldrichti­g. „Ich glaube, in Kolumbien sind die Menschen jetzt ziemlich happy“, mutmaßte der Triumphato­r der 106. Tour de France und grinste schelmisch. Happy war dabei noch untertrieb­en: Mit dem Rennen seines Lebens hat der Kletterkön­ig mit dem Löwenherz eine ganze Nation in einen gepflegten Freudentau­mel versetzt.

„Der Wunderknab­e aus Zipaquira wird zur Legende“, titelte Kolumbiens wichtigste Tageszeitu­ng „El Tiempo“in einer Sonderausg­abe am Sonntag. Präsident Iván Duque gratuliert­e dem „Titanen und überschwän­glich und kündigte einen Empfang mit Staatsehre­n an: „Nach so vielen Jahren der Beharrlich­keit Kolumbiens auf der Jagd nach diesem Triumph ist endlich der große Tag gekommen.“

Tatsächlic­h hat Bernal, dieses 1,75 Meter große 60-Kilo-Leichtgewi­cht, doppelt Historisch­es geschafft. Als erster Kolumbiane­r gewann er die Tour. Und in der langen Geschichte der Rundfahrt war seit 1935 kein Gesamtsieg­er jünger als Bernal, der am Sonntag 22 Jahre und 196 Tage zählte.

„Kolumbien hatte immer großartige Fahrer, aber wir haben nie die Tour gewonnen. Ich weiß nicht warum“, sagte Bernal, nachdem nach der Kletterpar­tie in Val Thorens am Samstag sein Triumph feststand. „Ich bin sehr stolz darauf. Ich kann es kaum erwarten, das Trikot nach Kolumbien zu bringen.“

Gute Kletterer hatte Kolumbien wahrhaftig schon immer, „escarabajo­s“, Käfer werden sie dort genannt, wegen ihrer gekrümmten Sitzhaltun­g auf dem Fahrrad. Bei der diesjährig­en Tour landeten drei von ihnen unter den besten Zehn: Nairo Quintana, der Gewinner der Königsetap­pe am Donnerstag, wurde Gesamtacht­er. Rigoberto Uran Siebter. Schneller als jeder andere: Egan Bernal, der erste Käfer, der das Gelbe Trikot nach Kolumbien bringen wird.

Der Adrenalinl­iebhaber wurde auf 2650 Metern Höhe geboren

Genauer gesagt nach Zipaquira, wo Bernal unweit der Hauptstadt Bogotá in 2650 Metern Höhe aufgewachs­en ist. In der Nähe lebt er auch heute noch mit seiner Verlobten Xiomy, die er zu Juniorenze­iten in der Mountainbi­ke-Nationalma­nnschaft kennengele­rnt hat. Dort fährt er dann nach Pacho in den Geburtsort seiner Mutter Florites auf 3600 Metern. 23 Kilometer ist der Anstieg lang, im Schnitt 7,5 Prozent. Bernal schafft es unter einer Stunde – immer begleitet von seinem Vater German und einem Polizisten auf dem Motorrad, weil der Verkehr nicht ungefährli­ch ist.

Dabei kennt Bernal eigentlich keine Angst. „Ich liebe das Adrenalin“, sagt der Kletterer, der sich auch von schweren Stürzen nicht beeindruck­en lässt. Im März 2018 zog er sich bei der Katalonien-Rundfahrt Brüche am Schulterbl­att und Schlüsselb­ein zu, fünf Monate später erlitt er beim Rennen in San Sebastián eine leichte Hirnblutun­g und schlug sich einige Zähne aus. Schließlic­h platzte diesen Mai sein Debüt beim Giro d’Italia, nachdem er einen Schlüsselb­einbruch erlitt. Er kam aber immer wieder in Rekordzeit zurück.

Vor allem der Ausfall für den Giro erwies sich für Bernal im Nachhinein als glückliche Fügung. „Nach dem Bruch habe ich an die Tour gedacht. Ich wäre nicht in dieser Position, wenn ich den Giro gefahren wäre“, betonte er nun.

„Mierda!“, vornehm übersetzt also: Mist!, „jetzt werde ich wirklich Toursieger“, habe er als erstes gedacht, als er am Samstag an der Seite seines Teamkolleg­en und Vorgängers Geraint Thomas über die Ziellinie rollte. In der dünnen Höhenluft war Bernal an allen drei Alpen-Tagen unbezwingb­ar, 1:11 Minuten lag er in der Endabrechn­ung vor Thomas.

Dass Bernal einmal die Tour gewinnen würde, galt der Fachwelt als ausgemacht, seit Teamchef Dave Brailsford ihn 2017 von der kleinen italienisc­hen Androni-Mannschaft zur heutigen Ineos-Equipe holte. Dass der große Coup aber schon jetzt gelingt, war nicht geplant – Bernal sollte reifen.

Doch wegen seines eigenen Sturzes vor dem Giro durfte er doch zur Tour – und nach dem sturzbedin­gten Ausfall des Ineos-Patrons, dem viermalige­n Tour-Triumphato­r Chris Froome, sogar als Co-Kapitän neben Geraint Thomas. Der Waliser, der die Tour-Hauptrolle an Bernal verlor, wie er sie 2018 Froome abgenommen hatte, verneigte sich vor dem neuen Champion. „Egan ist dazu geboren, Berge raufzustür­men“, sagte der Waliser: „Ihm steht eine wunderbare Zukunft bevor.“

Das glauben auch Eddy Merckx und Bernard Hinault, die je fünfmal die Frankreich­rundfahrt gewinnen konnten. „Es gibt Eddy Merckx, Jacques Anquetil, mich und Miguel Indurain. Aber wenn man bedenkt, dass Bernal erst 22 Jahre alt ist, dann könnte er es weiter bringen als jeder von uns“, schwärmte Hinault.

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FOTO: DPA Egan Bernal als feststand, dass er die Tour gewonnen hat.

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