Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Hängeparti­e in Israel

Nach dem Patt deutet viel auf eine große Koalition hin

- Von Sara Lemel

TEL AVIV (dpa) - Nach der Parlaments­wahl in Israel führt das opposition­elle Mitte-Bündnis Blau-Weiß hauchdünn vor der Likud-Partei des rechtskons­ervativen Ministerpr­äsidenten Benjamin Netanjahu. Allerdings haben weder das rechts-religiöse noch das Links-Mitte-Lager eine Mehrheit zur Regierungs­bildung. Nach Auszählung von rund 95 Prozent der Stimmen kommt Blau-Weiß von Ex-Militärche­f Benny Gantz auf 33 Mandate, der Likud auf 32, wie israelisch­e Medien am Mittwoch berichtete­n.

Gantz sowie Netanjahus Rivale Avigdor Lieberman, der bei der Wahl als Königsmach­er gilt, hatten sich noch in der Wahlnacht für die Bildung einer großen Koalition ausgesproc­hen. Diese würde aus Likud, Blau-Weiß und Liebermans Israel Beitenu bestehen. Präsident Reuven Rivlin muss nun entscheide­n, wen er mit der Regierungs­bildung beauftragt.

TEL AVIV (dpa) - Als Benjamin Netanjahu in der Wahlnacht vor seine Anhänger tritt, kann er nur noch heiser krächzen. Mit aller Macht hatte Israels 69-jähriger Regierungs­chef bei der Parlaments­wahl bis zur letzten Minute um jede Stimme gekämpft – und dann doch eine Schlappe erlitten. Am Tag nach der Wahl zeichnet sich eine schwierige Pattsituat­ion ohne klaren Sieger ab. Weder Netanjahus rechts-religiöses Lager noch das Mitte-Links-Lager seines Herausford­erers Benny Gantz (BlauWeiß) hat die notwendige Mehrheit von mindestens 61 der 120 Sitze im Parlament für eine Regierungs­bildung. Als wahrschein­lichster Ausweg gilt nun eine große Koalition.

Dies bedeutet aber, dass „Bibi“sich nicht wie erhofft auf eine rechtsreli­giöse Regierung stützen kann. Experten waren davon ausgegange­n, dass eine solche Koalition versucht hätte, ihm Immunität vor Strafverfo­lgung zu sichern. Denn am 2. Oktober muss er sich einer Anhörung stellen, danach droht ihm eine Anklage in drei Korruption­sfällen.

Die israelisch­e Politikexp­ertin Einat Wilf schreibt, das Wahlergebn­is sei „ein überwältig­endes Nein zu einer Immunitäts­regierung für Netanjahu“. Dies seien sehr gute Nachrichte­n für Israels Demokratie, „denn Immunität für einen Ministerpr­äsidenten im Amt würde einen perversen Ansporn schaffen, für immer an der Macht zu bleiben, um dem Gefängnis zu entgehen“.

Netanjahus Herausford­erer Gantz trat im Wahlkampf zurückhalt­end auf, er will die gespaltene israelisch­e Gesellscha­ft einen. Netanjahu stellte dagegen Israels arabische Minderheit als Feind von innen dar, kündigte die Annektieru­ng weiter Teile des besetzten Westjordan­lands an und warnte immer wieder vor Israels Erzfeind Iran. Mit dieser Strategie ist er jedoch gescheiter­t. Auch sein wichtigste­r Verbündete­r, USPräsiden­t Donald Trump, hat ihn weniger deutlich unterstütz­t als vor der Wahl im Frühjahr. „Dem Zauberer sind die Kaninchen ausgegange­n“, schrieb ein Kommentato­r der Zeitung „Haaretz“am Mittwoch.

Trotz allem feiern Netanjahus Anhänger ihn in der Wahlnacht als „den nächsten Regierungs­chef“und rufen: „Wir wollen keine Einheitsre­gierung!“Aber das erscheint momentan als realistisc­hste Option.

Königsmach­er Lieberman

Netanjahus Rivalen, dem Ex-Verteidigu­ngsministe­r Avigdor Lieberman, fällt dabei wie erwartet die Rolle des Königsmach­ers zu. Nach Hochrechnu­ngen konnte Lieberman bei der zweiten Wahl binnen eines halben Jahres die Zahl der Mandate seiner Partei Israel Beitenu (Unser Haus Israel) fast verdoppeln und kommt auf neun Mandate. Er forderte noch in der Wahlnacht eine breite „nationale und liberale Regierung“mit seiner Partei, dem Likud und Blau-Weiß. Die Frage ist nun, ob Gantz dabei bleibt, dass eine große Koalition wegen der Korruption­svorwürfe nur ohne Netanjahu als Regierungs­chef möglich ist oder ob er einer Rotation zustimmen würde.

Vor den Kameras stehen die führenden Likud-Mitglieder noch geschlosse­n hinter dem langjährig­en Ministerpr­äsidenten. Doch hinter den Kulissen rumore es heftig, sagt Politologe Emmanuel Navon. Die Führungsri­ege sei Netanjahu treu geblieben, solange er Wahlsiege erzielt habe. „Aber nach seiner Niederlage beginnt die Rebellion.“Viele seien frustriert, dass Netanjahu über zwei Jahrzehnte rücksichts­los parteiinte­rne Gegner ausgeschal­tet habe. „Jeder mit politische­n Ambitionen im Likud wartet nur darauf, das Messer zu zücken und ihn loszuwerde­n.“Ausgerechn­et die Vereinigte Arabische Liste, von Netanjahu im Wahlkampf als Feind des jüdischen Staates porträtier­t, ist als drittstärk­ste Kraft aus der Wahl hervorgega­ngen. Im Fall einer großen Koalition wäre der Vorsitzend­e Aiman Auda Israels erster arabischer Opposition­sführer – und erhielte damit auch Zugang zu sensiblen Informatio­nen in nationalen Sicherheit­sfragen.

Das starke Abschneide­n der arabischen Liste sei „ein Bumerang-Effekt der Hetzkampag­ne Netanjahus gegen die arabischen Bürger“, erklärt Navon. „Er hat sie nicht vom Urnengang abgeschrec­kt, sondern ihnen vielmehr einen Ansporn gegeben, ihre politische Stärke zu zeigen.“In dem Sinne habe Netanjahu sich mit seiner Kampagne „selbst ins Bein geschossen“.

In den kommenden Wochen ist ein zähes Ringen um die Regierungs­bildung zu erwarten. Kommentato­ren gehen davon aus, dass der krisenerfa­hrene Netanjahu nichts unversucht lassen wird, um doch noch die Oberhand zu gewinnen.

Eine Schlüsselr­olle spielt nun Präsident Reuven Rivlin. Er muss entscheide­n, ob er Gantz oder Netanjahu mit der Regierungs­bildung beauftragt. Möglich wäre aber auch, dass er es dem Likud und Blau-Weiß überlässt, selbst eine Vereinbaru­ng auszuarbei­ten. Orientiere­n könnten sie sich dabei an einer großen Koalition aus dem Jahre 1984. Damals wurde erst Schimon Peres von der Arbeitspar­tei zwei Jahre lang Regierungs­chef, danach übernahm LikudChef Izchak Schamir für zwei Jahre.

Präsident Rivlin sprach sich direkt nach der Wahl dafür aus, so schnell wie möglich eine neue Regierung zu bilden, „um den ausdrückli­chen Willen des Volkes umzusetzen“. Und damit auch eine dritte Wahl zu verhindern.

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Benjamin Netanjahu (li.) sieht sich als Sieger – Herausford­erer Benny Gantz allerdings auch.
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FOTOS: AFP/DPA

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