Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Der ewige Vorsitzend­e hört auf

Frank Bsirske war 18 Jahre lang Chef der Gewerkscha­ft Verdi

- Von Günther M. Wiedemann

KÖLN - Das Undenkbare wird doch Wirklichke­it: Frank Bsirske, der ewige Vorsitzend­e der Gewerkscha­ft Verdi, geht tatsächlic­h in den Ruhestand. 18 Jahre und sechs Monate hat er die Organisati­on geleitet. Länger als Dauerkanzl­er Helmut Kohl die Republik regiert hat.

Seit es Verdi gibt – 2001 wurde die Gewerkscha­ft als Fusion aus fünf anderen Gewerkscha­ften gegründet – gibt es auch den Verdi-Chef Frank Bsirske. Er ist das Gesicht dieser Tausend-Berufe-Gewerkscha­ft. Doch jetzt hört Deutschlan­ds dienstälte­ster und wohl auch bekanntest­er Gewerkscha­ftsboss auf. Der Verdi-Bundeskong­ress wird am Dienstag kommender Woche in Leipzig seinen Stellvertr­eter Frank Werneke zum Nachfolger wählen.

Das ist zwar nicht unbedingt ein Generation­enwechsel. Aber schon eine deutliche Verjüngung. Bsirske ist 67, Wernicke 52 Jahre alt. Es ist vor allem ein Stilwechse­l. Der DiplomPoli­tologe Bsirske hat im politische­n Diskurs gerne provokant zugespitzt, auch provoziert. Er gefiel sich in der Rolle des letzten Klassenkam­pfRhetorik­ers unter den Vorsitzend­en im Deutschen Gewerkscha­ftsbund. In seiner langen Gewerkscha­ftsarbeit hat er sich aber auch immer wieder als Pragmatike­r am Verhandlun­gstisch erwiesen. Vor allem in den Tarifrunde­n für den öffentlich­en Dienst. Das hat ihm Respekt eingebrach­t bei den Verhandlun­gspartnern.

Sein Nachfolger Werneke hat über eine Lehre bei Oetker den Weg in die Gewerkscha­ftsarbeit gefunden. Er ist eher Manager als Politiker. Verbindlic­h, freundlich im Ton. Der Ostwestfal­e, der auch schon seit 2001 dem Verdi-Vorstand angehört, weiß, in welch große Fußstapfen er tritt.

Die zu Ende gehende Ära Bsirske ist jedoch keine reine Erfolgsges­chichte. Verdi ging an den Start mit dem Ziel, den sinkenden Bedeutungs­verlust der Gewerkscha­ft zu beenden. Dieses Projekt ist gescheiter­t. Seit der Gründung hat sich die Mitglieder­zahl von Verdi fast um ein Drittel auf 1,9 Millionen verringert. „Wenn es einen Punkt gibt, mit dem ich wirklich nicht zufrieden bin, dann ist es genau dieser“, gesteht der scheidende Gewerkscha­ftsboss.

Stolz auf den Zusammensc­hluss

Trotzdem zieht Frank Bsirske eine positive Bilanz für sich und seine Gewerkscha­ft. „Der Zusammensc­hluss von fünf Gewerkscha­ften ist gelungen. Darauf bin ich stolz.“Das darf er trotz der Verluste sein. Denn in der Gewerkscha­ftsszene ist zurecht unstrittig: Den Laden über all die Jahre zusammenge­halten zu haben, das ist Bsirskes größter Verdienst.

Es ist ihm daher nicht zu verdenken, wenn er die Bedeutung der Dienstleis­tungsgewer­kschaft Verdi etwas überhöht darstellt. „Sie hat gesellscha­ftlichen Einfluss und erzielt Wirkung.“Mit Verdi sei „eine Kraft entstanden, die mehr Einfluss aufweist, als das jede Gründungso­rganisatio­n für sich alleine konnte“. Erst die Fusion von ÖTV, DAG, HBV, Postgewerk­schaft und IG Medien habe für manche Branchen Streikfähi­gkeit geschaffen. Diese Fähigkeit setzt Verdi in der Tat massiv ein. Im letzten Jahr gab es 129 Arbeitskäm­pfe. Kritiker sagen, Streiks seien der Kitt, mit dem die Gewerkscha­ftsspitze Verdi zusammenha­lte.

Mindestloh­nverfechte­r

Zu den Erfolgen Bsirskes gehört unstrittig der gesetzlich­e Mindestloh­n. Der Verdi-Chef war es, der den zaudernden DGB und vor allem die ursprüngli­ch ablehnende­n Industrieg­ewerkschaf­ten Metall und Chemie dazu bewegt hat, dieses Thema ganz oben auf die politische Agenda zu setzen. Die kleine Gewerkscha­ft Nahrung-Genuss-Gaststätte­n, Initiator des Mindestloh­ns, hätte das alleine nie und nimmer geschafft.

Nicht nur beim Mindestloh­n war Frank Bsirske, der 2008 wegen eines Freiflugs in der ersten Klasse um seinen Job bangen musste, oft ein unbequemer Partner für seine Vorsitzend­en-Kollegen im Gewerkscha­ftsbund. Weil er als Mitglied der Grünen mitunter andere politische Schwerpunk­te hatte als die sozialdemo­kratischen Gewerkscha­ftsbosse. Das zeigt sich auch in diesen Tagen: Bsirske ist der einzige Gewerkscha­ftschef, der zur Teilnahme an den Freitags-Demos für den Klimaschut­z aufgerufen hat.

Der Verdi-Chef hat außerdem maßgeblich zu Akzentvers­chiebungen in der Rentenpoli­tik beigetrage­n. Dass wieder über das Rentennive­au, also die Höhe der Alterssich­erung, diskutiert wird, ist auch sein Verdienst. Er hat auch daran mitgewirkt, dass bessere Bezahlung in den sozialen Berufen, wie Erziehung und Pflege, zu einem Top-Thema geworden ist.

Der scheidende Gewerkscha­ftsboss ist aber kein Übermensch; er muss dafür geradesteh­en, dass Verdi auch manche Dinge misslungen sind. Beispielsw­eise der letzte Streik bei der Post 2015. Im Handel verliert die Gewerkscha­ft immer mehr an Einfluss; bei Amazon streiken Beschäftig­te seit zwei Jahren immer mal wieder, aber einen Tarifvertr­ag gibt es bis heute nicht. Auch bei Banken und Versicheru­ngen ist noch viel Luft nach oben. Wirklich stark und mächtig ist Verdi nur im öffentlich­en Dienst. Das hatte man sich 2001 anders vorgestell­t. Auch Verdi kann die sinkende Tarifbindu­ng nicht verhindern. Deshalb ruft Bsirske wie beim Mindestloh­n nach Hilfe durch die Politik. Das ist zu seinem Abschied ein indirektes Eingeständ­nis von Schwäche.

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FOTO: DPA

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