Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die Geschichte einer erfolgreichen Integration
In Europa hat die Kartoffel längst ihren festen Platz: von der „Dreifaltigkeit auf dem Teller“bis zur Pommes
BONN (KNA) - Egal ob gekocht oder frittiert, ob im Salat oder als Süppchen – es handelt sich um eine durch und durch erfolgreiche Geschichte kultureller Integration. Ursprüngliche Heimat der Kartoffel oder der „chuno“– wie die Indios sie nennen – sind die Anden in Südamerika. Im späten 16. Jahrhundert fand die Knolle ihren Weg zu den Europäern – und sie ist in ihrem Speisespektrum alles andere als ein nur geduldetes Element. Sie hat sich in den Küchen von Spanien bis Schweden einen festen Platz als Grundnahrungsmittel erobert. Und obwohl Nudeln und Reis ihr mächtig Konkurrenz bereiten, lässt sie sich nicht unterkriegen.
Spanische Seefahrer brachten einst die Kartoffelpflanze aus Südamerika mit und machten sie in europäischen Gefilden heimisch. Dabei dachten sie gar nicht an die Pflanze als Nahrungsmittel, zumal deren kirschgroße Früchte genauso wie die Blätter und Stängel wegen ihres Solaningehalts giftig sind. Der Verzehr dieser Pflanzenteile kann zu Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall, Atemnot oder Krampfanfällen führen.
Rein ästhetische Gründe – die leuchtend weißen, rosa und lila Blüten – führten zu dem botanischen Kulturtransfer von Übersee nach Europa. Erst später entdeckte man, dass die Knolle, das Speicherorgan der Pflanze, genießbar und überdies wegen des hohen Stärkeanteils sehr nahrhaft ist. Die ursprünglich kleinen Sorten entwickelten sich erst durch das Einkreuzen chilenischer Varianten Anfang des 19. Jahrhunderts zur heute bekannten Speisekartoffel.
Um aber ein Lebensmittel für die Massen zu werden, bedurfte es immensen Drucks von oben. Preußens König Friedrich II., auch der Große genannt, wollte gegen die Hungersnöte der Bevölkerung angehen und verfügte im Frühjahr 1756 „die Pflantzung der Tartoffeln als einer sehr nahrhaften Speise“. Nicht nur Staatsbeamte mussten für den Anbau sorgen und das Wissen über den Nutzen „dieses Erd Gewächses“verbreiten. Auch Pastoren fungierten als „Knollenprediger“. Im Wort „Tartoffel“spiegelt sich übrigens die Herkunft des Begriffes Kartoffel. Er leitet sich von „tartufolo“, der italienischen Verkleinerungsform von tartufo – zu Deutsch Trüffel – ab.
Über Jahrhunderte hat die Kartoffel laut Deutschem Bauernverband in Europa maßgeblich zur Ernährungssicherheit beigetragen. In den vergangenen Jahrzehnten hat der Verzehr in der Bundesrepublik aber erheblich abgenommen. Für den Beginn der 1950er-Jahre verzeichnen Statistiker noch einen Pro-Kopf-Verbrauch von 186 Kilo. 2018 ist er auf nur noch 68,8 Kilo gesunken. Darin enthalten ist auch der Anteil an Kartoffeln, aus denen Stärke für die Industrie produziert wird.
Gerade in den Nachkriegsjahren war die Salzkartoffel als Sättigungsbeilage neben Fleisch und Gemüse unverzichtbarer Bestandteil der „Dreifaltigkeit auf dem Teller“, wie der Völkerkundler und Buchautor Johannes J. Arens ausführt. Inzwischen habe eine unüberschaubare und globalisierte Produktvielfalt von Pasta über Pizza bis hin zu Basmatireis und Burger das Arme-Leute-Essen von einst abgelöst. Und da sei auch viel Wissen über die Knolle – etwa dass es mehlige, vorwiegend festkochende und festkochende gibt – in der jungen Generation verloren gegangen.
Dennoch sieht Arens eine Zukunft für die Kartoffel. Allgemein sei derzeit das Interesse für Essen deutlich gewachsen, wie TV-Kochshows oder Portale im Netz zeigen. Denn in Zeiten von Krisenstimmungen suchten viele Menschen Trost und Halt in vertrauten Dingen. Und Kindheitslebensmittel wie die Kartoffel hätten da ihren besonderen Platz.
Der Volkskundler macht noch einen weiteren Trend aus, der auch der Kartoffel als eigenständigem Gemüse zu neuen Ehren verhilft. Weil Glaube und Kirche an Einfluss verlieren, suchten viele Menschen woanders Sinn – eben auch beim Essen. Die „Reinheit des eigenen Selbst“strebten sie etwa über eine Paleo-Ernährung an, über eine Steinzeiternährung. Industrieprodukte wie Alkohol, Zucker oder Fertiggerichte sind dabei tabu, dagegen Kräuter, Pilze, (Wild-)Fleisch, Nüsse, Beeren oder Gemüse bevorzugte Wahl. Von diesem Hang zum „Clean Eating“kann aus Sicht von Arens auch die Kartoffel profitieren – zumal sie als regionales und damit ökologisch gut vertretbares Produkt zu haben ist.
Begehrt sind Fritten und Chips
Die beliebteste Form des modernen Kartoffelgenusses hat indes doch sehr mit Produktionsprozessen in Fabriken zu tun: die Pommes. Im Wirtschaftsjahr 2017/2108 waren es durchschnittlich 6,3 Kilo Fritten, die auf eine oder in eine Person kamen. Arens spricht vom „kleinsten gemeinsamen Nenner der mobilen Ernährung“, der völlig immun ist gegen Probleme, etwa das unter Krebsverdacht stehende und beim Frittieren entstehende Acrylamid. Wie die Pommes erfreuen sich auch die in Massen hergestellten Kartoffelchips großer Beliebtheit: Von 2014 bis 2018 stieg der Jahreskonsum von 1,4 auf 1,7 Kilo pro Person.
In natura zeigen sich die Kartoffeln in vielerlei Varianten und Farben: von gelb über rot bis lila. Die meisten der rund 200 in Deutschland zugelassenen Sorten haben weibliche Namen: Marabel oder Annabelle, Laura oder Alexa, Natascha oder Anuschka. Auf mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Gemüsewelt zielte 2016 die Bundestagspetition 66662, wonach Kartoffelsorten per Gesetz gleichberechtigt mit weiblichen und männlichen Namen versehen werden sollten. Der Vorstoß scheiterte wegen mangelnder Unterstützung. Aber es gibt auch männliche Bezeichnungen für Züchtungen des Nachtschattengewächses: Hermes, Albatros, Innovator oder Blauer Schwede.
Ob weiblich oder männlich konnotiert – die Trockenheit des Sommers im vergangenen Jahr hat die Ernteerträge bei der Kartoffel in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um rund ein Viertel – von 11,7 auf 8,9 Millionen Tonnen schrumpfen und die Preise für die Knolle um ein Drittel in die Höhe schnellen lassen. Auch in diesem Jahr macht spärlicher Regen in manchen Regionen Deutschlands den Bauern Sorge.
Eine wachsende Bedeutung gewinnt die Kartoffel dort, wo eigentlich Reis Grundnahrungsmittel ist: in China. Mittlerweile ist das Reich der Mitte größter Kartoffelproduzent der Welt. Dabei bevorzugt die Bevölkerung nach wie vor den Reis, weshalb die meisten Knollen in den Export gehen. Aber weil der Reisanbau relativ viel Wasser und Fläche benötigt, wird die Kartoffel wie einst in Preußen von oben promotet. Statt auf Befehl setzt die Regierung aber auf eine Image-Offensive. Annabelle oder Albatros – sie sind jetzt die Stars in Kochshows, auf Webseiten und Plakaten.