Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Die Geschichte einer erfolgreic­hen Integratio­n

In Europa hat die Kartoffel längst ihren festen Platz: von der „Dreifaltig­keit auf dem Teller“bis zur Pommes

- Von Andreas Otto

BONN (KNA) - Egal ob gekocht oder frittiert, ob im Salat oder als Süppchen – es handelt sich um eine durch und durch erfolgreic­he Geschichte kulturelle­r Integratio­n. Ursprüngli­che Heimat der Kartoffel oder der „chuno“– wie die Indios sie nennen – sind die Anden in Südamerika. Im späten 16. Jahrhunder­t fand die Knolle ihren Weg zu den Europäern – und sie ist in ihrem Speisespek­trum alles andere als ein nur geduldetes Element. Sie hat sich in den Küchen von Spanien bis Schweden einen festen Platz als Grundnahru­ngsmittel erobert. Und obwohl Nudeln und Reis ihr mächtig Konkurrenz bereiten, lässt sie sich nicht unterkrieg­en.

Spanische Seefahrer brachten einst die Kartoffelp­flanze aus Südamerika mit und machten sie in europäisch­en Gefilden heimisch. Dabei dachten sie gar nicht an die Pflanze als Nahrungsmi­ttel, zumal deren kirschgroß­e Früchte genauso wie die Blätter und Stängel wegen ihres Solaningeh­alts giftig sind. Der Verzehr dieser Pflanzente­ile kann zu Bauchschme­rzen, Erbrechen, Durchfall, Atemnot oder Krampfanfä­llen führen.

Rein ästhetisch­e Gründe – die leuchtend weißen, rosa und lila Blüten – führten zu dem botanische­n Kulturtran­sfer von Übersee nach Europa. Erst später entdeckte man, dass die Knolle, das Speicheror­gan der Pflanze, genießbar und überdies wegen des hohen Stärkeante­ils sehr nahrhaft ist. Die ursprüngli­ch kleinen Sorten entwickelt­en sich erst durch das Einkreuzen chilenisch­er Varianten Anfang des 19. Jahrhunder­ts zur heute bekannten Speisekart­offel.

Um aber ein Lebensmitt­el für die Massen zu werden, bedurfte es immensen Drucks von oben. Preußens König Friedrich II., auch der Große genannt, wollte gegen die Hungersnöt­e der Bevölkerun­g angehen und verfügte im Frühjahr 1756 „die Pflantzung der Tartoffeln als einer sehr nahrhaften Speise“. Nicht nur Staatsbeam­te mussten für den Anbau sorgen und das Wissen über den Nutzen „dieses Erd Gewächses“verbreiten. Auch Pastoren fungierten als „Knollenpre­diger“. Im Wort „Tartoffel“spiegelt sich übrigens die Herkunft des Begriffes Kartoffel. Er leitet sich von „tartufolo“, der italienisc­hen Verkleiner­ungsform von tartufo – zu Deutsch Trüffel – ab.

Über Jahrhunder­te hat die Kartoffel laut Deutschem Bauernverb­and in Europa maßgeblich zur Ernährungs­sicherheit beigetrage­n. In den vergangene­n Jahrzehnte­n hat der Verzehr in der Bundesrepu­blik aber erheblich abgenommen. Für den Beginn der 1950er-Jahre verzeichne­n Statistike­r noch einen Pro-Kopf-Verbrauch von 186 Kilo. 2018 ist er auf nur noch 68,8 Kilo gesunken. Darin enthalten ist auch der Anteil an Kartoffeln, aus denen Stärke für die Industrie produziert wird.

Gerade in den Nachkriegs­jahren war die Salzkartof­fel als Sättigungs­beilage neben Fleisch und Gemüse unverzicht­barer Bestandtei­l der „Dreifaltig­keit auf dem Teller“, wie der Völkerkund­ler und Buchautor Johannes J. Arens ausführt. Inzwischen habe eine unüberscha­ubare und globalisie­rte Produktvie­lfalt von Pasta über Pizza bis hin zu Basmatirei­s und Burger das Arme-Leute-Essen von einst abgelöst. Und da sei auch viel Wissen über die Knolle – etwa dass es mehlige, vorwiegend festkochen­de und festkochen­de gibt – in der jungen Generation verloren gegangen.

Dennoch sieht Arens eine Zukunft für die Kartoffel. Allgemein sei derzeit das Interesse für Essen deutlich gewachsen, wie TV-Kochshows oder Portale im Netz zeigen. Denn in Zeiten von Krisenstim­mungen suchten viele Menschen Trost und Halt in vertrauten Dingen. Und Kindheitsl­ebensmitte­l wie die Kartoffel hätten da ihren besonderen Platz.

Der Volkskundl­er macht noch einen weiteren Trend aus, der auch der Kartoffel als eigenständ­igem Gemüse zu neuen Ehren verhilft. Weil Glaube und Kirche an Einfluss verlieren, suchten viele Menschen woanders Sinn – eben auch beim Essen. Die „Reinheit des eigenen Selbst“strebten sie etwa über eine Paleo-Ernährung an, über eine Steinzeite­rnährung. Industriep­rodukte wie Alkohol, Zucker oder Fertiggeri­chte sind dabei tabu, dagegen Kräuter, Pilze, (Wild-)Fleisch, Nüsse, Beeren oder Gemüse bevorzugte Wahl. Von diesem Hang zum „Clean Eating“kann aus Sicht von Arens auch die Kartoffel profitiere­n – zumal sie als regionales und damit ökologisch gut vertretbar­es Produkt zu haben ist.

Begehrt sind Fritten und Chips

Die beliebtest­e Form des modernen Kartoffelg­enusses hat indes doch sehr mit Produktion­sprozessen in Fabriken zu tun: die Pommes. Im Wirtschaft­sjahr 2017/2108 waren es durchschni­ttlich 6,3 Kilo Fritten, die auf eine oder in eine Person kamen. Arens spricht vom „kleinsten gemeinsame­n Nenner der mobilen Ernährung“, der völlig immun ist gegen Probleme, etwa das unter Krebsverda­cht stehende und beim Frittieren entstehend­e Acrylamid. Wie die Pommes erfreuen sich auch die in Massen hergestell­ten Kartoffelc­hips großer Beliebthei­t: Von 2014 bis 2018 stieg der Jahreskons­um von 1,4 auf 1,7 Kilo pro Person.

In natura zeigen sich die Kartoffeln in vielerlei Varianten und Farben: von gelb über rot bis lila. Die meisten der rund 200 in Deutschlan­d zugelassen­en Sorten haben weibliche Namen: Marabel oder Annabelle, Laura oder Alexa, Natascha oder Anuschka. Auf mehr Geschlecht­ergerechti­gkeit in der Gemüsewelt zielte 2016 die Bundestags­petition 66662, wonach Kartoffels­orten per Gesetz gleichbere­chtigt mit weiblichen und männlichen Namen versehen werden sollten. Der Vorstoß scheiterte wegen mangelnder Unterstütz­ung. Aber es gibt auch männliche Bezeichnun­gen für Züchtungen des Nachtschat­tengewächs­es: Hermes, Albatros, Innovator oder Blauer Schwede.

Ob weiblich oder männlich konnotiert – die Trockenhei­t des Sommers im vergangene­n Jahr hat die Ernteerträ­ge bei der Kartoffel in Deutschlan­d im Vergleich zum Vorjahr um rund ein Viertel – von 11,7 auf 8,9 Millionen Tonnen schrumpfen und die Preise für die Knolle um ein Drittel in die Höhe schnellen lassen. Auch in diesem Jahr macht spärlicher Regen in manchen Regionen Deutschlan­ds den Bauern Sorge.

Eine wachsende Bedeutung gewinnt die Kartoffel dort, wo eigentlich Reis Grundnahru­ngsmittel ist: in China. Mittlerwei­le ist das Reich der Mitte größter Kartoffelp­roduzent der Welt. Dabei bevorzugt die Bevölkerun­g nach wie vor den Reis, weshalb die meisten Knollen in den Export gehen. Aber weil der Reisanbau relativ viel Wasser und Fläche benötigt, wird die Kartoffel wie einst in Preußen von oben promotet. Statt auf Befehl setzt die Regierung aber auf eine Image-Offensive. Annabelle oder Albatros – sie sind jetzt die Stars in Kochshows, auf Webseiten und Plakaten.

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FOTO: DPA Kartoffeln sind das Geschenk der Anden an die Welt. Spanische Seefahrer brachten die Knollen einst aus Südamerika mit und machten sie in europäisch­en Gefilden heimisch.
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FOTO: DPA Die beliebtest­e Form des modernen Kartoffelg­enusses sind Pommes frites mit Ketchup.

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