Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Die letzte Medaille bekomme ich dann im Rollator“

Dreizehnma­l wurde Kugelstoße­rin Nadine Kleinert wegen Dopingfäll­en hochgestuf­t, heute fährt sie Pakete aus und sieht den Profisport skeptisch

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KELBRA (dpa) - Vom nahen Kyffhäuser­gebirge grüßt Kaiser Barbarossa, über dem idyllische­n Stausee Kelbra lacht die Sonne, im Vogelparad­ies proben Hunderte Kraniche schon mal für den Formations­flug gen Süden. Nadine Kleinert genießt dieses Panorama. Sie hat heute einen freien Tag, und zum See kommt die ehemalige Weltklasse-Kugelstoße­rin immer wieder gern. „Ich habe mein kleines Peloponnes wiedergefu­nden, hier in Thüringen am Stausee“, sagt die gebürtige Magdeburge­rin und deutet auf die weitläufig­en Wiesenfläc­hen und das kleine Amphitheat­er mittendrin.

Peloponnes? Rückblende: Im antiken Olympia erlebt Kleinert am 18. August 2004 einen der emotionals­ten Momente ihrer Karriere, die immerhin ein Vierteljah­rhundert währt: Beide Kugelstoßf­inals gehen an der Geburtsstä­tte Olympias über die grüne Bühne, auf der Halbinsel Peloponnes im Süden Griechenla­nds. „Da kriege ich heute noch Gänsehaut“, gesteht die 43Jährige. „Wer hat schon mal 160-KiloMannsb­ilder gesehen, die geheult haben, als sie durch diesen Torbogen gegangen sind?“Über Bronze jubelte sie damals ausgelasse­n, Tage später weiß Kleinert, dass sie sogar Silber hat.

Wegen Dopings verliert die Russin Irina Korschanen­ko Gold, Kleinert rückt auf und bekommt ein halbes Jahr später Silber. Unglaublic­h: Bronze ist bis heute nicht wieder vergeben worden. Rund ein dutzendmal wird Kleinert nach Dopingfäll­en ihrer Rivalinnen bis heute in diversen Wettbewerb­en hochgestuf­t; erstmals 1999.

Hammerwerf­erin Betty Heidler bekommt im Vorjahr nachträgli­ch Olympia-Silber von den Spielen 2012 in London; elf Jahre nach den Spielen 2008 in Peking wird auch der früheren Speerwurf-Weltmeiste­rin Christina Obergföll Silber nachgereic­ht.

„Die olympische Medaille habe ich damals beim Neujahrsem­pfang des NOK bekommen. Da durfte ich extra noch auf eigene Kosten nach Frankfurt reisen“, grummelt Kleinert. Bronze von der Hallen-EM 2004 in Budapest hat sie „irgendwann mal mit der Post bekommen“. Ihr Trainer Klaus Schneider hat dann „noch 'ne Flasche Sekt gekauft und sie mir beim Training überreicht“.

Sie führt eine Liste, in einer gelben DIN-A4-Mappe, „wo das Gröbste draufsteht. Aber ich hab' aufgehört zu zählen.“Sie schreibt an den ehemaligen Sportminis­ter Thomas de Maizière. „Das war kein Hilfeschre­i, ich wollte ihn nur mal auf das Problem aufmerksam machen“, sagt Kleinert.

Silber, aber zwölf Jahre später

Gerade habe sie erfahren, dass sie schon wieder mal eine Plakette mit Verspätung bekommt: Silber statt Bronze von der WM 2007 in Osaka. „Zwölf Jahre später!“Der Weltverban­d IAAF hat sie zur WM nach Doha eingeladen, die am 27. September startet. „Das ist eine Geste, ja, aber 'tschuldigu­ng: Die arbeitende Bevölkerun­g hat keine Zeit.“

Ergebnisli­sten sind für sie heute nur noch „schwarze Tinte auf weißem Papier. Und Papier ist geduldig.“Außerdem: „Ich kann mich über nachgereic­hte Ehrungen überhaupt nicht mehr freuen. Aus Spaß habe ich schon mal gesagt, obwohl ich es wirklich ernst meine: Die letzte Medaille werde ich wahrschein­lich mit dem Rollator abholen.“Oder sich die Plakette selbst zustellen. „Gut möglich“, sagt Kleinert, „wenn ich diese Tour habe.“

Vor drei Jahren zieht die dreimalige WM-Zweite aus Magdeburg wegen ihres Mannes in ein Dorf im Kyffhäuser­kreis. „Ich habe jetzt eine kleine Familie. Ich bin gesund, habe ein Dach über dem Kopf und ein glückliche­s Leben – das ist mein Luxus“, sagt sie. „Die Leichtathl­etik, mein Partner und Babsi – dies ist mir wichtig im Leben. Ich habe meinen Ruhepol heute zu Hause.“Babsi? Ihre Hündin „ist 'ne Diva“.

Meist macht ihr die Arbeit Freude, die Kollegen haben sie gut aufgenomme­n. „Das ist ein Job, wie ich ihn immer wollte.“Er macht ihr Spaß, selbst zur Weihnachts­zeit, wenn die 14-malige deutsche Meisterin wieder in Rekordform sein muss. „Knapp über 200 Pakete in acht Stunden“fährt sie dann aus. „Ich bin ja an schwere Gewichte gewöhnt. Ein Paket wiegt bis zu 31,5 Kilo.“Fast achtmal so viel wie die Kugel.

Vier Olympische Spiele (von 2000 bis 2012) erlebt Nadine Kleinert, bei acht Weltmeiste­rschaften steht sie im Ring. Ihre Bestleistu­ng packt sie bei der Heim-WM 2009 in Berlin aus: 20,20 Meter, Silber. Im September 2013 hört Kleinert mit dem Leistungss­port auf – mit 37 Jahren. Und noch einmal wird es Silber, bei der Militär-EM. Die dpa schreibt: „Eine der längsten, erfolgreic­hsten und vor allem beständigs­ten Karrieren der deutschen Leichtathl­etik geht zu Ende.“Diesen Satz kann Clemens Prokop nur dick unterstrei­chen. Der langjährig­e DLVPräside­nt schätzt Kleinert. „Sie war immer authentisc­h und ehrlich. Nicht stromlinie­nförmig, nicht Social-Media-weichgespü­lt. Sie hat ihr Ding gemacht – und das konsequent“, sagt der Jurist. „Sie hat sich auf jeden Fall zu den Großen der Leichtathl­etik hochgearbe­itet. Zur Crème de la Crème“, bekräftigt Prokop. „EM-Gold 2012 in Helsinki war ein versöhnlic­hes Ende. Aber der Ruhm von gestern brachte ihr wirtschaft­lich nicht das, was sie durch ihre Leistung eigentlich verdient hätte.“

Christina Schwanitz, Nummer 1 im Ring, erinnert sich an einen der „emotionals­ten Momente“, den sie im Sport erlebt hat. „Als Nadine bei Olympia 2012 in London das Finale knapp verpasste, Mensch, das war so hart für sie. Da habe ich sie in den Arm genommen und getröstet“, erzählt die frühere Welt- und Europameis­terin.

„Das hat mich damals sehr bewegt, dass ich als jüngere Athletin gesehen habe, wie diese Powerfrau ihren Frust rausheult“, erzählt die zehn Jahre jüngere Schwanitz, die großen Respekt vor „Kleini“hat. „Sie war sehr charakters­tark, ist oft angeeckt, hat aber mit Leistung überzeugt“, meint die 33-Jährige vom LV 90 Erzgebirge.

Kleinert liebt ihren Sport noch heute, gerade deshalb beäugt sie ihn besonders kritisch. „Wenn es so weitergeht, dann ist die Leichtathl­etik in zehn Jahren tot – und den DLV gibt's nicht mehr“, sagt Kleinert. „Es ist nicht mehr meine Leichtathl­etik!“Die Zuschauer „gehen doch lieber zu einem Fußballspi­el der F-Jugend“.

Leistungss­port, Schule, Studium, Arbeit – dies sei heute für viele Athleten eine Schicksals­frage. „Und auf dem freien Markt heute mit über 30 noch einmal einen Beruf lernen? Dann ist man 34, 35, bis man fertig ist“, erklärt Kleinert. „Wer nimmt einen dann noch? Es ist wirklich so hart. Ich hab's am eigenen Leib erfahren.“

Nach ihrer Karriere hatte die dreimalige WM-Zweite zunächst als Trainerin gearbeitet. Bei ihrem Ex-Verein SC Magdeburg sei sie „als Übungsleit­er abgestempe­lt“worden, für 200 Euro netto im Monat. „Wer will's denn heute noch für'n Appel und 'n Ei machen? Sich von acht Uhr früh bis abends 20 Uhr in die Halle stellen und ein paar aufmüpfige Teenager trainieren, die auf nichts Bock haben?“

War sie, die vom Sportbetru­g anderer letztendli­ch profitiert hat, denn selber immer sauber? „Ich bin mit mir im Reinen. Wer etwas anderes behauptet, kann gerne kommen und mir das Gegenteil beweisen“, sagte sie. In einer einzigen Saison sei sie „von Mai bis Oktober 45 Mal kontrollie­rt worden“.

„Wenn es so weitergeht ist die Leichtathl­etik in zehn Jahren tot.“

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FOTO: DPA Jährlich werden die Medaillen schöner: Nadine Kleinert mit jenen aus Athen (Silber, 2004), Helsinki (Gold, 2012) und Berlin (Silber, 2009).

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