Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Die Natur ist nicht schwäbisch“
Die Holzbildhauerin Lucia Hiemer aus dem Allgäu lebt nach der Permakultur – Porträt einer Lebenskünstlerin
„Wenn wir 10 bis 20 Prozent der Landfläche sich selbst überlassen, bleibt das ökologische Gleichgewicht erhalten.“ Lucia Hiemer
„Viele Menschen trauen sich nicht, sich selbst zu leben. Bei mir holen sie sich ein Stück Freiheit ab.“ Lucia Hiemer
WALTENHOFEN
- Energie und Elan der Lucia Hiemer wirken ansteckend. Etwa wenn sie barfuß und mit schnellem Schritt über die Holzdielen ihres Hauses vom Atelier in den Wohnraum saust. Wenn sie über die mit Rindenmulch bedeckten Wege ihres Gartens streift, hier ein Blatt zupft, dort eine Blume pflückt, dabei Wachstum und Welke der Gewächse erfasst. Oder wenn sie in einer fließenden Bewegung und mit einem Satz auf einen brachliegenden Baumstamm hüpft und erklärt: „Das ist das Herzstück, die Wildniszone.“Und dabei auf ein Dickicht von Geäst und Gestrüpp, von Bäumen, Sträuchern und Unkraut blickt, das wenig einladend wirkt. Das Lucia Hiemer aber glücklich macht.
„Ich habe schon immer eine Narrenfreiheit gehabt“, sagt die 44-Jährige, die in einer Bauernfamilie aufwuchs und heute in Waltenhofen bei Kempten auf einem Grundstück lebt, das einst ihre Urgroßmutter erwarb. Narrenfreiheit, weil sie sich zwar dem Allgäu und seinen Menschen verbunden fühlt, als Künstlerin aber früh einen Sonderweg einschlug. Genauso wie mit ihrem Lebensentwurf, der auf viele exotisch wirken mag, der aber auch eine besondere Anziehungskraft besitzt. Spätestens seit die ARD ein Filmporträt ausstrahlte und dabei zeigte, wie sie eines Sommermorgens aus dem Baumhaus auf ihrem Gelände kletterte, kann sich Lucia Hiemer kaum vor Medienanfragen und Besuchern retten. Die wissen wollen, wer diese Frau ist, wie sie lebt. Und ob es stimmt, dass sie ihren Garten noch nie gegossen hat?
„Das ist richtig. Seit vielen Jahren nicht mehr. Keinen einzigen Tropfen, auch nicht im heißen Sommer des vergangenen Jahres“, sagt sie und steht dabei zwischen Kohl- und Salatköpfen, zwischen Sonnenblumen und Anispflanzen, zwischen Spinat, Lauch und Wildkräutern, inmitten üppigen Wachstums voller Farben und Formen, das ohne Dünger und Wasser auskommt.
Das Geheimnis dahinter, wenn es denn eines ist, heißt Permakultur. Eine Lebensweise und -philosophie, bei der es darum geht, die Natur genau zu beobachten und zu adaptieren. Um auf diese Weise ökologisch und ökonomisch stabile Netze zu bauen. Um die Energien maximal zu nutzen – sodass keinerlei Abfall bleibt. So verwendet sie Holzspäne, die bei der Bildhauerei abfallen, für Wege oder als Isoliermaterial. Gras und Heu wiederum landen als Mulch auf den Beeten, wo das organische Material seine Feuchtigkeit abgibt und so das Wässern überflüssig macht. Zu diesem Verzicht gesellt sich eine Fülle, die sie in ihrem Mikrokosmos pflegt. „Die Natur ist nicht schwäbisch“, sagt sie lachend, „je mehr verschiedene Pflanzen und Tiere ich habe, desto stabiler reagiert alles auf Veränderungen, etwa des Klimas.“Und desto großzügiger fällt ihre Ernte aus.
Die besten Erträge erzielt sie mit alten und winterharten Sorten, die Boden, Wind und Wetter des Allgäus schon lange trotzen, wie die Feuerbohne oder den kroatischen Winterhäuptling, ein Kopfsalat. Das Saatgut ihrer inzwischen 80 Sorten stellt sie selbst her, füllt es in kleine braune Tüten ab, die sie mit schwarzer Tinte von Hand beschriftet.
Zu dieser Reichhaltigkeit gehört nicht zuletzt die Wildniszone, wo Pflanzen ungehindert wuchern, wo Totholz Lebensräume bietet für Vögel, Igel und Käfer, wo Kröten, Salamander und Molche sich frei entfalten, wenn auch in einem überschaubaren Bereich. „Die Vorstellung, dass wir überall alles einfach wachsen lassen, ist Quatsch, das ist Romantik“, sagt Hiemer und betont: „Wir leben nun mal in einem Kultursystem.“Das allerdings schon aus Selbsterhalt den Dialog, den Austausch mit ursprünglicher Natur und Vielfalt brauche. „Wenn wir nur zehn bis 20 Prozent der Landfläche sich selbst überlassen, dann bleibt das ökologische Gleichgewicht auf dem Globus erhalten“, ist sie überzeugt.
In Kursen und Vorträgen will sie auch andere überzeugen und ist manchmal überrascht über steigende Nachfrage und Neugier. Dann kommen gestandene Bäuerinnen zu ihr, wollen mehr über die neuen Wege mit alter Saat wissen, den befruchtenden Austausch zwischen Wildund Kulturfläche. Und nicht selten stoppen vor ihrem Holzhaus mit den großzügigen Fensterfronten auch Menschen, von denen man es nicht meinen würde. „Die haben zu Hause Rasenkante und rupfen alles Unkraut, setzen sich bei mir aber in den Garten und sagen ,Ah, ist das schee.'“Um Wildwuchs und Permakultur anschließend auch daheim anzuwenden? „Nein“, sagt Hiemer. „Da herrschen andere Gesetze.“Die Nachbarn schauen, das Umfeld kontrolliert. „Das können die nicht übertragen.“Und deshalb fahren jeden Samstag die Fahrzeugkolonnen zum Wertstoffhof, um Äste und Wurzeln, Gras und Laub, um Biomasse und -energie zu entsorgen, weil der Garten aufgeräusmt wird. „Das ist aber keine Ordnung, sondern nur ordentlich“, sagt Hiemer. „Ordnung schafft sich die Natur selber.“
Die Leute kommen trotzdem zu ihr, staunend und beseelt, und die Gastgeberin glaubt auch zu wissen warum: „Viele Menschen trauen sich nicht, sich selbst zu leben“, sagt sie. „Bei mir holen sie sich ein Stück Freiheit ab.“Und sei es nur für wenige Stunden, für Augenblicke, die in den Köpfen eine Vorstellung erzeugen von einem anderen Leben unter anderen Gesetzmäßigkeiten.
Um das innere Gleichgewicht geht es auch bei ihrer eigentlichen Berufung, der Holzbildhauerei. Dabei schafft sie manchmal Sakrales wie in der Mariengrotte in Rauns, zumeist aber erfüllt sie die „Herzenswünsche“ihrer Kunden, wie sie sagt. Die mit ihrer Lebensgeschichte bei ihr anklopfen, kommen, von einschneidenden Erlebnissen oder Erinnerungen berichten, für die sie aus einem Stück Baumstamm eine Symbolik, etwas Haptisches schnitzt. Und sei es ein Michel aus Lönneberga, der an diesem Tag in ihrem Atelier zur Abholung bereitsteht, und hinter dem sich eine solch persönliche Geschichte verbirgt.
Somit bedient Lucia Hiemer auf die eine oder andere Weise die Sehnsüchte der Menschen. Womöglich weil die Lebenskünstlerin mit ihrem Lebensentwurf eine ideale Projektionsfläche bietet für eine Gesellschaft, die sich noch nie so viele Gedanken darüber gemacht hat, wie sie sich ernähren und wie sie wohnen will. Wie sie Ressourcen sparen und Abfall vermeiden, wie sie den Klimawandel stoppen kann. Wie sie ihr Dasein gestalten will.
Lucia Hiemer hat darauf ihre ganz eigene Antwort gefunden, indem sie sich im Dreieck zwischen Garten, Atelier und Haushalt bewegt, indem sie die übliche Trennung von Arbeits- und Lebenswelt auf ungewöhnliche Weise aufgehoben hat. Dass sie mit Haus und Grundstück Privilegien besitzt, ist der Mutter von drei erwachsenen Söhnen genauso bewusst wie die harte, zumeist körperliche Arbeit, die hinter allem steckt. „Auch ich habe meine Zwänge“, sagt die 44-Jährige. Und auch sie hat ihre Sehnsüchte. Etwa die nach der Ferne.
Im kommenden Frühjahr will die Allgäuerin zu einer Weltreise aufbrechen – für wer weiß wie lange. Um anderswo die Natur und die Menschen zu beobachten und zu studieren, ihre Lebensweisen und Muster. Um manches davon vielleicht eines Tages zu adaptieren, in einem Mikrokosmos in Waltenhofen bei Kempten.