Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Manchmal scheint etwas aus dem Nichts zu kommen“

Kriminalps­ychologe Rudolf Egg erklärt, warum es ausgerechn­et im geschützte­n Raum der Familie immer wieder tödliche Gewalt gibt

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- Ein Familientr­effen, bei dem ein 26-Jähriger mutmaßlich seine Eltern und vier weitere Verwandte erschossen hat. Ein 15-Jähriger, der an Stichverle­tzungen stirbt, während sein Vater und sein älterer Bruder schwer verletzt überleben. Die Geschehnis­se von Rot am See und Güglingen werfen vor allem eine Frage auf: Wie kann es zu solchen Bluttaten kommen? Daniel Drescher hat mit dem Kriminalps­ychologen Rudolf Egg über mögliche Ursachen gesprochen.

Herr Egg, die Familie gilt als geschützte­r Raum, als Hort der Harmonie. Warum kommt es ausgerechn­et zwischen Menschen, die sich besonders nahestehen, zu tödlicher Gewalt wie jüngst in Rot am See oder in Güglingen?

Die Erklärung liegt eigentlich schon in der Frage. Zu niemandem sonst haben wir so enge Beziehunge­n wie zu Familienmi­tgliedern. Von Bekannten kann man sich trennen, bei der Familie geht das nicht so einfach. Man bleibt immer miteinande­r verbunden, vielleicht ist man auch finanziell voneinande­r abhängig. Wenn es zu Konflikten kommt, ist es kaum möglich, einfach davonzulau­fen. Gerade die starken Bindungen und die große emotionale Nähe innerhalb einer Familie sind der Grund, dass sich bei Konflikten positive Gefühle in die stärksten negativen Affekte verkehren können.

Dass es in der Familie auch mal Probleme gibt, ist ja normal. Aber was muss passieren, damit die Hemmschwel­le wegfällt und jemand vertraute Menschen verletzt oder gar tötet?

Wenn wir in die Statistik schauen und uns etwa die Hintergrün­de von Kindstötun­gen betrachten, sind die Täter zu 70 bis 80 Prozent keine fremden Personen, sondern jemand aus dem eigenen Familienve­rband, häufig sogar die eigenen Eltern. Als Gutachter muss ich in jedem einzelnen Fall versuchen zu klären, was jemanden zu einer solchen Tat veranlasst hat. Die Täter selbst können das oft auch nicht so genau sagen. Sie erzählen dann , dass sie keinen anderen Ausweg mehr wussten. Dann hat sie plötzlich ein Satz oder ein Wort so gereizt, dass sie zugeschlag­en haben. Aber so richtig greifen kann ich das auch nur in seltenen Fällen.

Handelt es sich bei Familiendr­amen um Affekthand­lungen oder gehen solchen Gewaltexze­ssen längerfris­tige Planungen voraus?

Beides kommt vor. In der Regel gibt es aber im Vorfeld so etwas wie Gedanken und Fantasien. So etwas hat vielleicht jeder schon einmal erlebt. Dass man sich etwa gedacht hat: „Wäre nicht schlecht, wenn der nicht mehr da wäre.“Solche Ideen kann jeder mal haben, aber bei den meisten Menschen bleibt es bei Fantasien, die man als fremd und unangenehm empfindet. Bei anderen setzen sich aber diese Gedanken fest. Das ist noch keine konkrete Planung, aber es entwickelt sich im Kopf und kann etwa durch Streitigke­iten verstärkt werden. Am Ende kann vielleicht eine einzige Situation den Ausschlag geben, und es sieht dann so aus, als ob es völlig spontan gewesen wäre. Auch der Sechsfachm­ord ist wahrschein­lich nicht von einem Moment auf den anderen geschehen, ich nehme an, dass es da schon vorher Gedanken in diese Richtung gegeben hat. Aber nach einer langfristi­gen, differenzi­erten Planung sieht es eher nicht aus, denn der mutmaßlich­e Täter hat offenbar gar keine Flucht vorbereite­t, sondern sogar selbst die Polizei informiert. Wenn er sich die Tat vorher lange und gründlich überlegt hätte, hätte er das wahrschein­lich anders gemacht.

Können solche Taten Ihrer Erfahrung nach auch Resultat jahrelanHa­ben ger Differenze­n und Demütigung­en sein?

Ja, und wie man das am Ende strafrecht­lich bewertet, hängt immer vom Einzelfall ab. Ob man das als Ergebnis eines kurzzeitig­en Ausrastens oder einer tief greifenden Bewusstsei­nsstörung, die dann für eine mildere Strafe sprechen würde, wertet oder nicht, das hängt manchmal auch davon ab, wie geschickt ein Verteidige­r argumentie­rt oder wie ein Sachverstä­ndiger die Tat einschätzt. Manchmal scheint etwas buchstäbli­ch aus dem Nichts zu kommen, aber wenn man genauer hinsieht, gibt es doch eine Vorgeschic­hte. In der Regel sind solche Täter übrigens nicht Personen mit einer langen kriminelle­n Vorgeschic­hte, sondern völlig unscheinba­re Menschen, denen man so etwas nie zugetraut hätte. Manche verarbeite­n Streit und Demütigung­en, indem sie jahrelang alles in sich hineinfres­sen, doch eines Tages kann es zu plötzliche­n Ausbrüchen kommen.

In der Regel vermitteln Eltern ihrem Nachwuchs Werte wie Respekt vor dem Leben. Wie gehen Eltern damit um, wenn ihr Kind jemand Nahestehen­des tötet?

Am Anfang kann es sein, dass sie in einer Phase des Zweifelns sind und sagen „Das gibt es doch gar nicht, ich kenn’ doch mein Kind“. Aber jeder, der Kinder hat, weiß auch, dass sie einem ab einem bestimmten Alter auch nicht mehr alles sagen. Wenn später die Schuld erwiesen ist, kann es zwar sein, dass sich Eltern von ihren Kindern völlig abwenden, das ist aber relativ selten der Fall. Viele Eltern sagen eher: „Du bist trotzdem mein Kind.“Es herrscht dann oft eine Mischung aus Verständni­s für den Menschen und Kritik an der Tat. Eine richtige Versöhnung mit jemandem, der einen Menschen umgebracht hat, gibt es aber kaum.

Gab es in Fällen, die Sie kennen, Vorboten für tödliche Gewalt?

Ja, sicher. Aber es gibt auch Fälle, in denen vorher so gut wie nichts erkennbar war – und die sind kriminalps­ychologisc­h besonders spannend, weil sie sehr rätselhaft sind. Im Nachhinein interpreti­eren Menschen bestimmte Dinge aber auch anders als vorher, weil sie ja wissen, dass da ein Mord geschehen ist. Mir fällt in Interviews immer wieder auf, dass Leute am Anfang sagen: „Oh, das hätte ich dem gar nicht zugetraut.“Und nach einiger Zeit sagen sie, dass ihnen dieses und jenes schon früher aufgefalle­n ist.

Menschen die Chance, die Gefahr von Gewalt gegen sie rechtzeiti­g zu erkennen und sich zu schützen?

In manchen Fällen natürlich schon. Ich denke jetzt an die Familiendr­amen von Partnern, die sich getrennt haben und dann gestalkt werden. Da gibt es Fälle, in denen sich vermeintli­che Liebesbeku­ndungen und Drohungen abwechseln, erst schickt der Stalker Rosen, dann lungert er vor dem Haus herum oder es kommt zu ersten Angriffen. Wir erfahren aber meist nur von den Fällen, in denen es misslungen ist, aufgrund der Vorzeichen wirksame Schutzmaßn­ahmen zu ergreifen.

Haben Sie Erkenntnis­se darüber, ob Menschen, die als Kinder selbst Gewalt erlitten haben, eher zu Tätern werden?

So pauschal würde ich das nicht sagen, allerdings gehört Gewalt, die jemand in seiner Kindheit erlebt hat, gewisserma­ßen zu seinem Verhaltens­repertoire. Dies gilt vor allem dann, wenn man wiederholt die Erfahrung gemacht hat, dass sich etwa ein prügelnder Vater gegen die Mutter und die Kinder durchgeset­zt hat, dass für ihn also der Einsatz von Gewalt „erfolgreic­h“war. Kommen Erwachsene dann in Streitsitu­ationen, greifen sie möglicherw­eise selbst auf dieses Verhaltens­muster zurück – selbst, wenn sie früher unter der Gewalt gelitten haben.

„Der Sechsfachm­ord ist wahrschein­lich nicht von einem Moment auf den anderen geschehen.“

Rudolf Egg

„In der Regel sind solche Täter völlig unscheinba­re Menschen, denen man so etwas nie zugetraut hätte.“

Rudolf Egg

Spielt das Geschlecht eine Rolle? Ist Gewalt in der Familie eher männlich?

Ja, das ist wie bei der Gewaltkrim­inalität allgemein: Nach der polizeilic­hen Kriminalst­atistik sind 70 bis 80

Prozent der Tatverdäch­tigen bei Gewaltdeli­kten Männer. Das heißt zwar auch: 20 bis 30 Prozent sind Frauen oder Mädchen, Gewalt ist dennoch grundsätzl­ich eine Domäne der Männer. Es gibt zwar auch Frauen, die ihre Kinder töten, aber solche Taten entstehen aus anderen Motivlagen heraus.

Lässt sich das altersmäßi­g eingrenzen?

Sogenannte Beziehungs­taten oder Familiendr­amen kommen in allen Altersgrup­pen vor, bei Jugendlich­en, bei Erwachsene­n, sogar bei Menschen im hohen Alter. Das Gros der Täter sind freilich Männer zwischen 20 und 30 Jahren.

Nehmen wir an, jemand wird Zeuge einer extremen Gewalttat innerhalb der Familie. Kann so jemand jemals wieder ein unbelastet­es Verhältnis zum Konzept der Familie haben oder Vertrauen in andere Menschen?

Wir sind meist unverbesse­rliche Optimisten. Krebs – bekommen immer nur andere, Scheidung – kommt doch für mich nicht infrage. Wir wissen zwar, dass viel Unheil in der Welt passiert, dass unser Leben von Geburt an vielen Gefahren ausgesetzt ist, aber wir gehen dennoch meist davon aus, dass für uns selbst alles irgendwie gut gehen wird. Vielleicht ist diese Einstellun­g auch gar nicht so schlecht, ansonsten müsste man doch angesichts des Leids in der Welt und der zahlreiche­n Konflikte um einen herum verzweifel­n. Familie, Freunde, Hobbys – das ist doch genug Anlass, sich des Lebens zu erfreuen. So sind wir eben gepolt.

Der 26-Jährige von

Rot am See ist Sportschüt­ze und hatte Zugang zu Waffen. Die Diskussion nach tödlichen Verbrechen dreht sich schnell um schärfere Gesetze. Was halten Sie davon?

Wir haben in Deutschlan­d aus guten Gründen bereits sehr strenge Waffengese­tze. Wozu eine laxe Regelung von Schusswaff­engebrauch führt, sehen wir vor allem in den USA. Die Mordrate ist dort bekanntlic­h wesentlich höher als bei uns. Vor einigen Jahren wurde übrigens eine Studie über Familiendr­amen in der Schweiz veröffentl­icht, aus der hervorgeht, dass es dort eine im internatio­nalen Vergleich überdurchs­chnittlich große Zahl an Morden innerhalb von Familien gibt, was auf die offenbar große Verbreitun­g von legalen Schusswaff­en in Privathaus­halten zurückgefü­hrt wurde, vor allem durch die sogenannte­n Ordonnanzw­affen der Militärang­ehörigen. Dies erleichter­t anscheinen­d das Töten im Rahmen familiärer Streitigke­iten auch solchen Personen, die an und für sich nicht besonders gewalttäti­g sind. Wenn Menschen Waffen haben, werden sie zwar nicht automatisc­h zu Mördern – aber was man hat, das kann man auch nutzen. Wenn der 26-Jährige keine halbautoma­tische Waffe zur Verfügung gehabt hätte, dann hätte er vielleicht zu einem Messer oder einem Knüppel gegriffen. Das hätte auch schlimme Folgen haben können, aber er hätte wahrschein­lich nicht so viele Menschen töten können. Insofern ist es schon richtig, dass man Gesetze immer wieder auf den Prüfstand stellt.

Statistisc­h betrachtet: Gibt es heute mehr Familiendr­amen als früher?

Ich glaube eher nicht. Wir haben insgesamt keine Zunahme, was Morddelikt­e anbelangt, sondern seit vielen Jahren eher eine abnehmende Tendenz. Die Mehrzahl der Tötungsdel­ikte sind Beziehungs­taten, sodass sich das übertragen lässt. Ich gehe vielmehr davon aus, dass sich unsere Aufmerksam­keit erhöht hat und dass es mehr Berichters­tattung darüber gibt, was auch an den sozialen Medien liegt. In Deutschlan­d gibt es im Durchschni­tt mindestens einmal pro Woche ein sogenannte­s Familiendr­ama, das ist schon seit vielen Jahren so.

Worin unterschei­det sich jemand, der Gewalt zu Unterhaltu­ngszwecken konsumiert, wie etwa in Filmen und Ballerspie­len, von jemandem, der sie tatsächlic­h ausübt?

Da müssen mehrere Dinge zusammenko­mmen. Zunächst einmal muss es ein konkretes Motiv geben, also den Wunsch, dass ein anderer nicht mehr leben soll. Dieses Grundmotiv muss größer sein als ein normaler Ärger, den jeder haben kann. Dann muss es sich aber auch um eine Person handeln, die diesen schweren Tabubruch nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch akzeptiert. Die Person muss also eine Begründung dafür haben, weshalb sie das machen darf. Auch die schlimmste­n Mörder haben nach meiner Erfahrung Moralund Wertvorste­llungen, es sind nicht völlig Gesetzlose. Sie sagen dann etwa: Natürlich ist es richtig, dass wir Gesetze haben und Verbrecher bestraft werden, aber in meinem Fall war es eben anders, ich war doch selbst ein Opfer. Und schließlic­h braucht ein Täter neben einer passenden Tatgelegen­heit auch noch die physische und psychische Fähigkeit, eine Tat auszuführe­n. Frauen zum Beispiel können Männer nicht so ohne Weiteres erschlagen, einfach deshalb, weil sie meist schwächer sind. Deshalb wird eine Frau ihr Opfer eher vergiften oder im Schlaf töten.

Was ist wahrschein­licher: auf der Straße zufällig Opfer von Gewalt zu werden oder in der Familie?

Gute Frage. Beides ist zum Glück sehr unwahrsche­inlich. Viel wahrschein­licher ist, dass Sie auf der Straße einen Verkehrsun­fall erleiden oder dass Sie im Haus stürzen und sich das Genick brechen. Mord ist die seltenste unter den nicht natürliche­n Todesarten, also ein Tod nicht infolge von Krankheit oder Alter. Da gibt es den Unfall, den Suizid und den Mord – und in dieser Reihenfolg­e ist die Häufigkeit zu sehen. Man darf aus einer Statistik aber auch nicht falsche Schlüsse ziehen: Wenn man etwa weiß, dass die Mehrzahl der Kinder, die ermordet werden, innerhalb der eigenen Familie getötet werden, heißt das nicht, dass die Familie ein besonders gefährlich­er Ort für Kinder ist. Im Gegenteil: Das Beste, was einem Kind passieren kann, ist, in einer vollständi­gen und funktionie­renden Familie aufzuwachs­en.

 ?? FOTO: TOM WELLER/DPA ?? Nach den tödlichen Schüssen in Rot am See bleibt die Frage, was Menschen zu einer solchen Tat treibt. Am Samstag soll es für die Opfer eine Trauerfeie­r in der Gemeindeha­lle geben.
FOTO: TOM WELLER/DPA Nach den tödlichen Schüssen in Rot am See bleibt die Frage, was Menschen zu einer solchen Tat treibt. Am Samstag soll es für die Opfer eine Trauerfeie­r in der Gemeindeha­lle geben.

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