Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Tränen und zum Schluss auch Hass

Die britischen EU-Abgeordnet­en verabschie­den sich emotional von ihrem Brüsseler Arbeitspla­tz

- Von Daniel Hadrys

BRÜSSEL - Eine Woche der Tränen in Brüssel endet mit einem alten schottisch­en Volkslied. „Auld Lang Syne“„längst vergangene Zeit“- singen die Europaparl­amentarier zum Abschied ihrer 73 britischen Kollegen. Jedenfalls jene, die den Austritt Großbritan­niens aus der Europäisch­en Union und damit den Auszug der Abgeordnet­en aus dem Parlament betrauern. Einige liegen sich in den Armen, halten sich bei den Händen, können die Tränen nicht unterdrück­en. EU-Skeptiker und Rechtsextr­eme blicken schadenfro­h zu ihnen hinüber.

Kurz zuvor hatten sie das Austrittsa­bkommen zwischen EU und Großbritan­nien mit 621 zu 49 Stimmen angenommen. Nicht, dass diese Abstimmung irgendwas geändert hätte. Der Brexit ist beschlosse­ne Sache. Nach der britischen Parlaments­wahl im Dezember war klar, dass Großbritan­nien und die EU vorerst keine gemeinsame Zukunft haben. Die Woche haben die britischen Abgeordnet­en genutzt, um ihre Büros leer zu räumen und sich mit dem Gedanken zu versöhnen.

Hitzige, emotionale Debatte

Die abschließe­nde Debatte um das Brexit-Abkommen zuvor hatte jedoch gezeigt, dass sie das noch vor sich haben. Die Emotionen von Befürworte­rn und Gegnern haben sich auch dreieinhal­b Jahre nach dem Referendum nicht abgekühlt. BrexitPart­ei-Chef Nigel Farage betonte erneut, wie sehr er Europa liebt, aber die EU hasst. Nach seinem Redebeitra­g provoziert­e er mit einem finalen Eklat. Farage und seine Parteigeno­ssen schwenkten die Union-JackFlagge – was im Parlament verboten ist, weswegen die stellvertr­etende Parlaments­präsidenti­n Mairead McGuinness ihm kurzerhand das Mikrofon abdrehte. Der AfD-Abgeordnet­e Jörg Meuthen, dessen Partei in Teilen von einem „Dexit“träumt, beklatscht­e Farages Manöver vergnügt aus der zweiten Reihe.

Die britische Grüne Molly Scott Cato hingegen beendete ihre Rede unter Tränen. „In meinem Herzen weiß ich, dass ich eines Tages unsere Rückkehr in dieses Parlament im Herzen Europas feiern werde“, sagte sie – aus allen Richtungen kamen tröstende Umarmungen.

Wiedersehe­n statt Lebewohl

Mit dieser Hoffnung ist Cato nicht alleine. Oft hört man dieser Tage in Brüssel, der Brexit sei kein „Goodbye“, sondern ein „Au revoir“– also kein „Lebewohl“, sondern ein „Auf Wiedersehe­n“. So lautete auch das Motto einer Veranstalt­ung der sozialdemo­kratischen S&D-Fraktion zum Abschied ihrer britischen Labour-Kollegen. Jene, die am Mittwochvo­rmittag da waren, berichten von einem sozialdemo­kratischen Kommission­svizepräsi­denten Jens

Timmermann­s neben der Fraktionsc­hefin Iratxe Garcia – beide mit geröteten Augen. Der deutsche SPDFraktio­nschef Jens Geier habe seine Tränen ebenfalls nicht zurückhalt­en können.

Zu Gast war auch Evelyne Gebhardt. „Es war eine schöne, würdige Veranstalt­ung“, erzählt die einzige SPD-Europaabge­ordnete für BadenWürtt­emberg in ihrem Büro, auf ihrem

Tisch der Liedtext von

„Auld Lang Syne“. „Wir haben aber auch klar gemacht, dass wir weiterhin gut zusammenar­beiten wollen und eine EU-UK-Freundscha­ftsgruppe gegründet, damit die Verbindung zu den Menschen nicht abbricht.“Nicht wenige der britischen Labour-Kollegen hätten die Hoffnung geäußert, in fünf oder zehn Jahren wieder dabei zu sein. Und dennoch betont Gebhardt: „Es tut weh, es tut einfach weh. Wir wissen seit drei Jahren, dass der Brexit kommt, hatten aber immer wieder die Hoffnung, dass er noch abzuwenden sei.“

Viel Zeit für Trennungss­chmerz bleibt jedoch nicht. Elf Monate hat die EU Zeit für ein neues Abkommen mit

Großbritan­nien. „Es geht nun darum, daraus das Beste für die Bürgerinne­n und Bürger zu machen.“Bis Ende des Jahres muss geklärt sein, welche Art von Beziehung EU und Großbritan­nien in Zukunft führen möchten.

Auf EU-Seite werde der Sachversta­nd einiger erfahrener EU-Parlamenta­rier dabei künftig fehlen, wie der Pfullendor­fer CDU-Abgeordnet­e Norbert Lins erzählt und die Kollegin Anthea McIntyre nennt, die mit ihm im Landwirtsc­haftsaussc­huss und Umweltauss­chuss saß. „Dazu kommt das Menschlich­e. Es gehen nicht nur

73 Kolleginne­n und Kollegen, sondern Menschen, mit denen man jahrelang zusammenge­arbeitet hat“, sagt Lins. Einige von ihnen sind erst im Juli eingezogen, auch jüngere, die sich jetzt „komplett neu orientiere­n müssen“, so Lins.

Das betrifft vor allem Liberaldem­okraten und Grüne. Einige von ihnen gehörten bis zum heutigen Freitag der Fraktion des Stuttgarte­r Grünen-Europaparl­amentarier­s Michael Bloss an. „Es ist sehr traurig und hart, dass sie sich so gegen den Brexit gewehrt haben und jetzt gehen müssen“, sagt

Bloss. Solch eine emotionale Zeit habe der 33-Jährige, der im Mai

2019 ins Europaparl­ament gewählt wurde, noch nicht erlebt – vor allem die fraktionsü­bergreifen­den Umarmungen hätten ihn bewegt.

Bloss glaubt, dass dieses Bild bleiben wird. „Farage wollte mit seinem Flaggen-Wedeln die Medien beherrsche­n. Aber wir haben ihm nicht dieses letzte Bild überlassen. Das letzte Bild war eines der Freundscha­ft und der Verbundenh­eit – und nicht ein Bild des Hasses.“

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FOTO: YVES HERMAN/DPA „Always United“(Immer vereint) ist auf den Schals der Abgeordnet­en zu lesen.
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FOTO: SPD Evelyne Gebhardt
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FOTO: OH Norbert Lins
 ?? FOTO: OH ?? Michael Bloss
FOTO: OH Michael Bloss

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