Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Tränen und zum Schluss auch Hass
Die britischen EU-Abgeordneten verabschieden sich emotional von ihrem Brüsseler Arbeitsplatz
BRÜSSEL - Eine Woche der Tränen in Brüssel endet mit einem alten schottischen Volkslied. „Auld Lang Syne“„längst vergangene Zeit“- singen die Europaparlamentarier zum Abschied ihrer 73 britischen Kollegen. Jedenfalls jene, die den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union und damit den Auszug der Abgeordneten aus dem Parlament betrauern. Einige liegen sich in den Armen, halten sich bei den Händen, können die Tränen nicht unterdrücken. EU-Skeptiker und Rechtsextreme blicken schadenfroh zu ihnen hinüber.
Kurz zuvor hatten sie das Austrittsabkommen zwischen EU und Großbritannien mit 621 zu 49 Stimmen angenommen. Nicht, dass diese Abstimmung irgendwas geändert hätte. Der Brexit ist beschlossene Sache. Nach der britischen Parlamentswahl im Dezember war klar, dass Großbritannien und die EU vorerst keine gemeinsame Zukunft haben. Die Woche haben die britischen Abgeordneten genutzt, um ihre Büros leer zu räumen und sich mit dem Gedanken zu versöhnen.
Hitzige, emotionale Debatte
Die abschließende Debatte um das Brexit-Abkommen zuvor hatte jedoch gezeigt, dass sie das noch vor sich haben. Die Emotionen von Befürwortern und Gegnern haben sich auch dreieinhalb Jahre nach dem Referendum nicht abgekühlt. BrexitPartei-Chef Nigel Farage betonte erneut, wie sehr er Europa liebt, aber die EU hasst. Nach seinem Redebeitrag provozierte er mit einem finalen Eklat. Farage und seine Parteigenossen schwenkten die Union-JackFlagge – was im Parlament verboten ist, weswegen die stellvertretende Parlamentspräsidentin Mairead McGuinness ihm kurzerhand das Mikrofon abdrehte. Der AfD-Abgeordnete Jörg Meuthen, dessen Partei in Teilen von einem „Dexit“träumt, beklatschte Farages Manöver vergnügt aus der zweiten Reihe.
Die britische Grüne Molly Scott Cato hingegen beendete ihre Rede unter Tränen. „In meinem Herzen weiß ich, dass ich eines Tages unsere Rückkehr in dieses Parlament im Herzen Europas feiern werde“, sagte sie – aus allen Richtungen kamen tröstende Umarmungen.
Wiedersehen statt Lebewohl
Mit dieser Hoffnung ist Cato nicht alleine. Oft hört man dieser Tage in Brüssel, der Brexit sei kein „Goodbye“, sondern ein „Au revoir“– also kein „Lebewohl“, sondern ein „Auf Wiedersehen“. So lautete auch das Motto einer Veranstaltung der sozialdemokratischen S&D-Fraktion zum Abschied ihrer britischen Labour-Kollegen. Jene, die am Mittwochvormittag da waren, berichten von einem sozialdemokratischen Kommissionsvizepräsidenten Jens
Timmermanns neben der Fraktionschefin Iratxe Garcia – beide mit geröteten Augen. Der deutsche SPDFraktionschef Jens Geier habe seine Tränen ebenfalls nicht zurückhalten können.
Zu Gast war auch Evelyne Gebhardt. „Es war eine schöne, würdige Veranstaltung“, erzählt die einzige SPD-Europaabgeordnete für BadenWürttemberg in ihrem Büro, auf ihrem
Tisch der Liedtext von
„Auld Lang Syne“. „Wir haben aber auch klar gemacht, dass wir weiterhin gut zusammenarbeiten wollen und eine EU-UK-Freundschaftsgruppe gegründet, damit die Verbindung zu den Menschen nicht abbricht.“Nicht wenige der britischen Labour-Kollegen hätten die Hoffnung geäußert, in fünf oder zehn Jahren wieder dabei zu sein. Und dennoch betont Gebhardt: „Es tut weh, es tut einfach weh. Wir wissen seit drei Jahren, dass der Brexit kommt, hatten aber immer wieder die Hoffnung, dass er noch abzuwenden sei.“
Viel Zeit für Trennungsschmerz bleibt jedoch nicht. Elf Monate hat die EU Zeit für ein neues Abkommen mit
Großbritannien. „Es geht nun darum, daraus das Beste für die Bürgerinnen und Bürger zu machen.“Bis Ende des Jahres muss geklärt sein, welche Art von Beziehung EU und Großbritannien in Zukunft führen möchten.
Auf EU-Seite werde der Sachverstand einiger erfahrener EU-Parlamentarier dabei künftig fehlen, wie der Pfullendorfer CDU-Abgeordnete Norbert Lins erzählt und die Kollegin Anthea McIntyre nennt, die mit ihm im Landwirtschaftsausschuss und Umweltausschuss saß. „Dazu kommt das Menschliche. Es gehen nicht nur
73 Kolleginnen und Kollegen, sondern Menschen, mit denen man jahrelang zusammengearbeitet hat“, sagt Lins. Einige von ihnen sind erst im Juli eingezogen, auch jüngere, die sich jetzt „komplett neu orientieren müssen“, so Lins.
Das betrifft vor allem Liberaldemokraten und Grüne. Einige von ihnen gehörten bis zum heutigen Freitag der Fraktion des Stuttgarter Grünen-Europaparlamentariers Michael Bloss an. „Es ist sehr traurig und hart, dass sie sich so gegen den Brexit gewehrt haben und jetzt gehen müssen“, sagt
Bloss. Solch eine emotionale Zeit habe der 33-Jährige, der im Mai
2019 ins Europaparlament gewählt wurde, noch nicht erlebt – vor allem die fraktionsübergreifenden Umarmungen hätten ihn bewegt.
Bloss glaubt, dass dieses Bild bleiben wird. „Farage wollte mit seinem Flaggen-Wedeln die Medien beherrschen. Aber wir haben ihm nicht dieses letzte Bild überlassen. Das letzte Bild war eines der Freundschaft und der Verbundenheit – und nicht ein Bild des Hasses.“