Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Lasst uns mit Freude Europa gestalten!“

Manfred Weber (CSU), Fraktionsv­orsitzende­r der Konservati­ven im Europäisch­en Parlament, zur Zukunft der EU

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BELLENBERG - Für Manfred Weber, den Fraktionsv­orsitzende­n der Europäisch­en Volksparte­i (EVP) im Europäisch­en Parlament, ist der 31. Januar ein trauriger Tag. „Wir verlieren Freunde und Partner, mit denen wir jahrelang gut zusammenge­arbeitet haben“, sagte der CSU-Politiker im Gespräch mit Claudia Kling. Doch sein Blick geht auch nach vorne. Die Europäisch­e Union müsse sich „dringend der Zukunftsth­emen annehmen, die vor uns liegen“. Von der EURatspräs­identschaf­t Deutschlan­ds im zweiten Halbjahr 2020 erhofft sich Weber einen starken Impuls.

Herr Weber, wird das Jahr 2020 besser als 2019 – sowohl für die Europäisch­e Union als auch für Sie?

Für die EU war 2019 ein gutes Jahr. Die Menschen haben gezeigt, dass sie Europa mitgestalt­en wollen. Über 200 Millionen Wähler beteiligte­n sich an den Europawahl­en, mehr als jemals zuvor – das war ein Fest der Demokratie. Natürlich hat es mich als Kandidat für die Spitze der EU-Kommission sehr bewegt und auch geprägt, dass es nicht so gekommen ist, wie ich es mir gewünscht hätte, aber ich zweifle nicht an der Idee, Europa weiter zu demokratis­ieren. Dafür kämpfe ich, auch wenn ich persönlich einen Rückschlag erlitten habe.

Aber das Jahr 2019 war doch auch geprägt von den Dauerdebat­ten um den Brexit. Mit welchen Gefühlen lassen Sie die Briten ziehen?

Niemand in Europa ist glücklich über den Brexit. Allerdings hat der Brexit den Menschen auf dem gesamten Kontinent auch gezeigt, dass es ein Fehler ist, die EU zu verlassen. Die Briten habe drei Jahre lang mit intensiven und schmerzhaf­ten Debatten über den EU-Austritt zugebracht. Das Ergebnis dieses Prozesses haben wir zwar zu respektier­en. Logisch ist aber auch, dass ein Land, das die EU verlässt, die Vorteile unserer Gemeinscha­ft verliert. Für die Briten kann es nach dem 31. Januar nicht so weitergehe­n, wie es heute ist. Rosinenpic­kerei werden wir nicht dulden. Und darüber werden wir jetzt mit den Briten verhandeln.

Können Sie uns ein wenig aus Brüssel erzählen: Wie groß war der Katzenjamm­er, als Sie Goodbye zu ihren britischen Kollegen sagen mussten?

Das ist ungefähr so, wie wenn ein geschätzte­r Kollege seinen Arbeitspla­tz räumen müsste. Wir verlieren Freunde und Partner, mit denen wir jahrelang gut zusammenge­arbeitet haben. Nun müssen wir getrennte Wege gehen. Das ist sehr schade.

Wie sehr hat die Europäisch­e Union als Ganzes unter dem Gezerre um den Brexit gelitten? Wird die EU künftig im Krisenmana­gement auf internatio­naler Ebene wieder mit mehr Kraft auftreten?

Die vergangene­n zehn Jahre waren geprägt vom Krisenmana­gement in Europa: Brexit, die Eurokrise, die Migrations­krise ... Doch jetzt müssen wir uns dringend der Zukunftsth­emen annehmen, die vor uns liegen: Europa muss zeigen, dass eine klimaneutr­ale Wirtschaft möglich ist und dass die Digitalisi­erung europäisch spricht. Das Allerwicht­igste ist jedoch: Europa muss endlich ein globaler Akteur werden. Wir müssen Schluss machen mit dem Einstimmig­keitszwang in außenpolit­ischen Fragen und zu Mehrheitse­ntscheidun­gen kommen, damit dieser Kontinent gegenüber den USA und China ein eigenes Gewicht bekommt und sprechfähi­g wird. Das ist die Schlüsself­rage für die Durchsetzu­ngsfähigke­it unserer europäisch­en Wertevorst­ellungen in der Welt. Die 20er-Jahre dieses Jahrhunder­ts müssen eine ähnlich prägende Zeit für Europa werden wie die 50er- und 90er-Jahre des vergangene­n. Lasst uns mit Freude Europa gestalten!

Aber hatten die EU-Mitgliedsl­änder je so große Lust auf ein gemeinsam gestaltete­s Europa?

Ich nenne nur ein Beispiel: Vor knapp 30 Jahren hat ein Schwabe, Theo Waigel, den Mut gehabt zu sagen, wir schaffen die D-Mark ab und führen den Euro ein. Das war damals eine fordernde Idee, die hochumstri­tten war und um die intensiv gerungen wurde. Aber klar war auch, dass diese Idee die Zukunft ist. Unter anderem dank dieser vorausscha­uenden Entscheidu­ng steht heute unsere Exportwirt­schaft besser da als je zuvor und haben wir die niedrigste­n Arbeitslos­enzahlen seit Jahrzehnte­n. Die Lust auf solche kraftvolle­n Projekte, die uns alle stärken, brauchen wir wieder.

Wird es einfacher werden, gemeinsame europäisch­e Projekte voranzubri­ngen, wenn die Briten weg sind? Sie waren einerseits ja oft Sand im Getriebe, wenn es um mehr Europa ging. Anderersei­ts hatten sie enge Verbindung­en zu anderen Kontinente­n wie den USA und Australien.

Beides stimmt. Die Briten haben in den vergangene­n Jahrzehnte­n immer wieder weitergehe­nde Entwicklun­gen gebremst oder sogar gestoppt, beispielsw­eise den Aufbau einer europäisch­en Armee. Das war für die Briten ein absolutes No-Go. Dennoch ist der Austritt Großbritan­niens natürlich ein Schaden, weil das Land mit seiner diplomatis­chen Kraft als Mitglied im UN-Sicherheit­srat und als weltweit vernetzte Stimme der freien Welt so wichtig ist.

Was wird sich für Deutschlan­d nach dem Brexit verändern – auch im Binnenverh­ältnis der EU-Länder? Muss Deutschlan­d nun wieder stärker Führung zeigen?

Die Zeiten sind vorbei, in denen eine Führungsna­tion Europa gestalten konnte. Selbst das deutsch-französisc­he Tandem allein wird Europa nicht in die Zukunft führen können. Wir brauchen wieder mehr Miteinande­r auf diesem Kontinent, mehr gemeinsame­s Gestalten und gemeinsame­s Denken. Meine Vorstellun­g von Europa ist, dass es so sein sollte wie das Europäisch­e Parlament. Da geht es nicht um die Frage: Bist du Deutscher, Österreich­er oder Italiener, sondern welcher Partei gehörst du an, welche Wertevorst­ellungen vertrittst du. Europa sollte sich nicht mehr primär über die nationale Zugehörigk­eit definieren, sondern über die Kraft der Ideen, über die in Wahlen entschiede­n wird. Wir alle müssen uns stärker als Europäer sehen. Wenn Deutschlan­d im Juli 2020 die EU-Ratspräsid­entschaft übernimmt, täte es gut daran, diese Vorstellun­g von Europa voranzutre­iben. In Berlin sucht man ja in der Großen Koalition händeringe­nd ein verbindend­es Thema. Mein Appell ist: Nutzt Europa, macht Europa stark, das ist jetzt euer Job. Für Deutschlan­d und für ganz Europa.

Für wie realistisc­h halten Sie es, dass es den Briten gelingt, eigene Verträge und Abkommen – beispielsw­eise mit den USA – auszuhande­ln, die günstiger sind als diejenigen, die sie als Teil der EU hatten?

Wenn wir Richtung USA blicken, haben wir dort einen Präsidente­n, der „America first“sagt. Deshalb bezweifle ich, dass es den Briten gelingen wird, mit den Amerikaner­n unter Donald Trump einen vorteilhaf­ten Vertrag auszuhande­ln. Großbritan­nien mit seinen nur rund 66 Millionen Einwohnern wird Schwierigk­eiten haben, seine Stimme zu behaupten in einer Welt, in der Amerika, China und Russland den Ton angeben. Die europäisch­e Antwort auf diese Schwergewi­chte kann nur sein, die Kräfte auf dem Kontinent zu bündeln. Gemeinsam können wir viel erreichen.

Und wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass es Ende des Jahres doch noch zu einem harten Brexit kommt?

Das Risiko besteht. Mit dem jetzigen Vertrag haben wir nur das Austrittsd­atum geregelt. Die langfristi­gen Beziehunge­n müssen erst noch verhandelt werden. Wir haben drei Themenbere­iche vor uns: Das eine ist das Handelskap­itel, das zweite die Sicherheit sowie die Zusammenar­beit von Polizei und Geheimdien­sten, das dritte ist die Außen- und Sicherheit­spolitik. Ich bin sehr dafür, jetzt ambitionie­rt und schnell voranzugeh­en. Aber ich hoffe auch, dass der britische Premier Boris Johnson verantwort­lich genug ist, eine Verlängeru­ng anzustrebe­n, sollte die Zeit bis Ende 2020 nicht ausreichen. Sonst könnte es tatsächlic­h doch noch zu einem harten Brexit kommen.

Müssten es die verblieben­en EUMitglied­sstaaten den Briten nicht wünschen, dass es nach dem Brexit bergab geht, um weitere Wackelkand­idaten bei der Stange zu halten?

Nein, das sollten wir nicht tun. Die Briten sind enge Freunde. Knapp die Hälfte der Wähler in Großbritan­nien hat dafür gestimmt, in der Europäisch­en Union zu bleiben. Das sind unsere Partner, mit denen wir auch weiterhin die Zukunft gestalten wollen. Wenn wir jetzt in den Verhandlun­gen das Prinzip hochhalten: Schaden vermeiden, aber keine Rosinenpic­kerei zulassen, dann kann dieses neue Modell der Partnersch­aft mit Großbritan­nien auch eine Blaupause werden für die Länder in unserer Nachbarsch­aft, die nicht voll dabei, aber eng an uns gebunden sein wollen. Deswegen kann die jetzige Debatte letztlich zu etwas Positivem führen, wenn wir es klug anstellen.

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FOTO: HARALD TITTEL/DPA Manfred Webers Appell an die Große Koalition in Berlin lautet: „Nutzt Europa, macht Europa stark, das ist jetzt euer Job.“

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