Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Wir optimieren uns zu Tode
Immer besser, genauer, leistungsfähiger, fitter? Die Gesellschaft im Selbstverbesserungswahn
Perfekt – so sollen wir, so sollen unsere Kinder, so soll unser Leben, so soll unsere Umgebung sein.
Der Traum vom neuen Menschen ist nun kulturgeschichtlich nichts Neues. Und ebenso alt, wie dieser Traum, ist die Erkenntnis, dass er niemals in Erfüllung geht. Und ehrlich: Gibt es etwas Langweiligeres als ein scheinbar perfekter Mensch? Schön wie ein Model, durchtrainiert, erfolgreich, effizient? Im schlimmsten Fall ist so ein Typ ein elender Narzisst, dem man besser aus dem Weg geht. Und wie oft verbirgt sich hinter einer scheinbar perfekten Kenund-Barbie-Familienwelt ein Abgrund?
„Selbstoptimierung“ist das Zauberwort unserer Zeit. Das geht so weit, dass diese Komparative (besser, schneller, fitter) oder gar Superlative (der Erfolgreichste, die Effizienteste) auch auf ganze Organisationseinheiten (das innovativste Unternehmen, die fitteste Bank) übertragen werden. Puh, wer da als armer Angestellter mittendrin steckt, dem steht schon der japanische Manager vor Augen, der bei der nächsten Bankenkrise Selbstmord begeht, weil er den Erwartungen nicht gerecht geworden ist.
Worin also können wir armen, fehlerhaften, mit der Erbsünde geborenen Erdenwürmer uns perfektionieren? Zuerst natürlich im Aussehen. Fitnessstudio, Diäten, Yoga. Klar. Dann gibt es jede Menge Pülverchen und Mittelchen. Wer ein bisschen mehr Geld hat, der lässt sich am Bodensee ein resolutes Kinn verpassen oder Fett absaugen und vor allem (vor allem!) jede klitzekleine Falte wegoperieren. Wer nicht so viel Geld hat, der kann sich wahlweise von Bibi auf YouTube beraten und vielleicht die Lippen im Urlaub aufspritzen lassen. Kollateralschäden eingeschlossen. Die ultimative Selbstoptimierung findet dann im Tod statt: Wir werden zu Diamanten.
Perfektionierung soll auch im Kopf und in der Psyche möglich sein. „Grenzen entstehen im Kopf“; „100 Prozent Engagement – Motivation durch Werte“; „Sieger erkennt man am Start – Verlierer auch“. Es gibt Hunderte solcher am Sozialdarwinismus vorbeischrammender Vortragstitel – und natürlich Bücher. Mein Favorit ist übrigens: „Persönlichkeit. Macht. Sinn. – Nutze sie“. Haben Sie die Punkte gesehen? Jedes Wort ein Vorschlaghammer.
Jeder Begriff ein Universum!
Wozu der ganze Zirkus? Geld und Sex. Lassen Sie uns aufs Geld beschränken. Ich weiß nicht, ob überhaupt mal jemand untersucht hat, wie viele Milliarden in diesem Geschäft stecken. Allein in der Berater- und „Speaker“-Szene. Kann ja nicht jeder Leistungssportler Nationaltrainer werden.
Auch hier lohnt es sich, ein wenig über das Wort nachzudenken: „Speaker!“Der Redner wird zum Verkünder. Da ist das Wort „Preacher“(Prediger) nicht weit.
Und wer weiß, ob das Ganze nicht tatsächlich miteinander zu tun hat: Im Land des Pietismus sind wir es gewöhnt, uns unvollkommen und sündhaft zu fühlen. Wer das erkannt hat, kann eine Menge Geld machen, weil sich Menschen mit einem tief verankerten Unvollkommenheitsgefühl leichter lenken lassen. Zumindest die Selbstoptimierungspropheten können davon leben. Ist doch schon was.
Dabei mögen diese Leute gute persönliche Ratgeber im Gespräch sein, vielleicht sogar super Typen.
Denn Leute, die gute Geschichten über ihr Leben zu erzählen haben, sind toll. So wie meine Oma und mein Opa. Die haben zwei Weltkriege überlebt, acht Kinder aufgezogen, Papst Johannes XXIII. als unglaublich erleichternd empfunden. Zugegeben, meine Oma, so klein von Wuchs wie ich, mit ihrem Fleiß und ihrer unendlichen Energie, ist mir manchmal auf die Nerven gegangen. Sie ahnen es, sie tendierte teilweise zur Perfektion.
Aber worauf ist es zum Schluss angekommen? Mit dem Opa (er war sehr belesen und der Meister der trockenen, schlauen Kommentare) und der Oma in der bescheidenen Bauernstube zu sitzen oder gemeinsam Kühe zu füttern, darauf kam es an. Meinen Großeltern wäre es nie im Leben eingefallen, mich zu fragen, wann ich denn endlich einen Marathon laufen würde oder Chefredakteurin werde.
Wir optimieren uns zu Tode, und andere verdienen viel Geld damit. Wir wollen frei und glücklich sein und lassen uns jede Sekunde von unseren Apps überwachen. Wir werden zu jämmerlichen Narzissten, weil wir uns ständig selber beobachten. Und dabei immer mehr Unperfektes finden. Wo ist die Grenze? Bei der Schönheits-OP? Bei Aufputschmitteln? Oder beim Designerbaby?
Auch unsere Wirtschaft optimiert ständig etwas, statt es von Anfang an gut zu machen.
Erst sind die
Schuhe Sondermüll, in der optimierten
Fassung nur noch unverrottbar. Super, gell? Erst erhöht der
Fernseher mit seinen Kunststoffen den Berg an Plastikmöbeln und danach die Müllberge. Erst werden Medikamente erfunden und dann zur Optimierung solche gegen die Nebenwirkung.
Wir wollen uns also möglichst so selbst optimieren, dass wir irgendwann glücklich sind. Das ist das Ziel: ein glückliches Leben. Doch die extrem Reichen sind nicht glücklicher, die Operierten finden sofort die nächste Schwachstelle.
Das Gegenmodell: Hunderte Filme und Bücher und sogar die rührseligen Spruchkärtlein auf Facebook haben einen Inhalt: Es ist schön, so geliebt zu werden, wie man ist. Natürlich hat auch hier die Selbstoptimierung eine kapitalistische Nische gefunden. Die Bücher tragen Titel wie heißen „Das Kind in Dir muss eine Heimat finden: Der Schlüssel zur Lösung fast aller Probleme“oder „ Gib dir die Liebe, die du verdienst“. Sicher ist demnächst der eine oder andere gut bezahlte „Speaker“auch zu diesem Thema in Ihrer Nähe.
Achja, wie sagte der Gelehrte Blaise Pascal schon im 17. Jahrhundert: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“
Das Unvollkommene ist reizvoll und inspirierend wie ein Silberblick. Und wirklich: Wir Menschen müssen uns nicht dauernd bestrafen.