Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Mr. Hyde ist weg, Dr. Jekyll ist da
Alexander Zverev holt vor dem Halbfinale gegen Dominic Thiem ein Versprechen ein
MELBOURNE (SID/dpa) - Vergangene Woche hat ihn noch keiner ernst genommen. Als Alexander Zverev nach seinem Auftaktmatch bei den Australian Open das verblüffende Versprechen abgab, er werde im Falle seines Turniersieges in Melbourne sein gesamtes Preisgeld für die Opfer der Buschfeuer spenden, war dies den australischen Zeitungen kein Wort wert. Zverev? Der gerade beim ATP Cup eine kleine Horrorshow geboten hatte? Pfff.
Ja, „kann man leicht sagen nach der ersten Runde, richtig?“, gestand selbst Zverev mit einem Lächeln ein, nachdem er ins Halbfinale an diesem Freitag (9.30 Uhr MEZ) gegen seinen Freund Dominic Thiem aus Österreich eingezogen war. Er hat ja selbst nicht erwartet, dass sein Versprechen ihn noch einmal einholen würde, aber nun: nehmen sie ihn ernst. Und er meint es ernst.
Zverev hat sich die Aufmerksamkeit verdient. 4,12 Millionen Australische Dollar (cirka 2,55 Millionen Euro) sind eine gewaltige Summe – „auch für mich“, hat er nun noch mal erklären müssen, und dann auch, warum er das Geld am Sonntag trotzdem hergeben würde: Seine Eltern hätten ihn so erzogen, er habe gelernt, dass „Geld die Welt verändern kann“. Und es gebe hier in Australien nun mal viele Menschen, die es wirklich nötiger hätten als er.
Dass er nun vermehrt darüber reden muss, mag auch für Alexander Zverev überraschend kommen nach dem Desaster beim ATP Cup, mit drei Niederlagen in drei Matches und 31 Doppelfehlern in 31 Aufschlagspielen. „Aber ich hatte dort nicht nur mit meinem Aufschlag Probleme. Ich hatte Probleme mit allem: mit meiner
Vorhand, mit meiner Rückhand, meinem Stopp, meinem Slice, meinem Return und dem Aufstehen am Morgen.“Und nun? Mr. Hyde ist weg, Dr. Jekyll da.
„Dies ist ein Grand Slam. Hier solltest du dein bestes Tennis spielen, und das tue ich gerade“, betont der 22-jährige Hamburger. „Es ist beeindruckend, wie er bislang spielt in diesem Turnier, wie er sein Spiel aufbaut, wie er sein Spiel auf dieses Niveau gehoben hat“, sagte Titelverteidiger und Rekordsieger Novak Djokovic (Serbien) nach seinem Sieg im ersten Halbfinale gegen Roder Federer (Schweiz) über Alexander Zverev. Djokovic hat mit seinem möglichen Finalgegner beim ATP Cup trainiert, er weiß, wovon er spricht. Und er freut sich über die Entwicklung seines Sports : „Es ist nur gut, wenn neue Champions nachkommen.“
Doch erst mal muss Alexander Zverev ein nicht gerade einfaches Halbfinale überstehen. Bis zum grandiosen Sieg gegen Rafael Nadal (Spanien) war auch Dominic Thiem unter dem Radar geflogen. Dass er nun, im Halbfinale, auf Zverev trifft, findet der 26-jährige Weltranglistenfünfte „lustig“: Es sei, bemerkte er amüsiert, „das erste Mal, dass ich in einem Grand-Slam-Halbfinale gegen einen Jüngeren spielen muss“. Thiem hat schon viermal in einem Halbfinale gestanden – seit 2016 bei den French Open in Paris. Zweimal stand er im Finale, 2018 und 2019. Beide Male unterlag er Nadal.
Auf die Partie gegen Zverev freut sich der Österreicher: „Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Wir haben eine nette Rivalität.“Lässt sich leicht sagen, wenn man von acht Duellen sechs gewonnen hat. Thiem sagte auch, er freue sich für Zverev, dass dieser nun im Halbfinale stehe, „er hat seinen Durchbruch bei einem Grand Slam geschafft“.
Und in Australien kennen sie nun mindestens 4,12 Millionen Gründe, warum sie diesen Deutschen endlich ernst nehmen sollten.
Novak Djokovic greift am Sonntag (9.30 Uhr MEZ) nach seinem achten Titel im achten Finale in Melbourne, wies aber bei aller Freude über seinen 27. Sieg im 50. Duell mit Roger Federer gleich darauf hin, dass der Schweizer offensichtlich angeschlagen in das Halbfinalmatch gegangen war. „Es war schrecklich, was ich durchgemacht habe“, sagte Federer tatsächlich: „Netter Empfang, netter Abschied“, und dazwischen ein Spiel „zum Vergessen, weil du weißt, du hast eine dreiprozentige Gewinnchance“. Dennoch habe er es versucht, erläuterte Federer. Aber als er festgestellt hatte, „dass es nicht mehr klappt, war es schon hart“. Federer hatte nach dem Viertelfinale gegen Tennys Sandgren über Adduktorenprobleme geklagt. „Wenn es schlimmer geworden wäre“, sagte er, „hätte ich das erste Mal in meiner Karriere aufgegeben.“Er hielt durch und befand danach enttäuscht, aber auch gefasst: „Alles in allem spiele ich gut.“Und nur, damit auch das klar war: „Ich habe keine Pläne, zurückzutreten.“(SID)