Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Sie haben die Unabhängig­keit, sonst gar nichts

Der Südsudan ist der jüngste Staat der Welt – Achteinhal­b Jahre nach der Gründung herrscht Verbitteru­ng und tiefe Armut

- Von Gioia Forster

NYAMLELL (dpa) - Luka Mol ist ein Rückkehrer – und ein Verzweifel­ter. Er kennt den Preis für die Unabhängig­keit des Südsudans, hat ihn am eigenen Leib erfahren. Als Kind plünderten arabische Reitermili­zen aus dem Norden sein Dorf, töteten seine Mutter, verschlepp­ten seine Schwestern und trieben den Bruder in die Flucht. „Ich hatte kein Zuhause mehr“, erinnert er sich. Mol schloss sich den Rebellen an, im Alter von zwölf. Er wollte die Familie rächen und den Süden von der Tyrannei des Nordens befreien. Irgendwann floh dann aber auch er vor der endlosen Gewalt.

Es schmerzt Mol sichtlich, in seine Vergangenh­eit einzutauch­en. Der 36-Jährige, schlank und muskulös, kleiner als die meisten Südsudanes­en, sitzt in der Mittagshit­ze im Schatten eines Schilfdach­s. In seinem hageren Gesicht sind wenig Gefühle zu erkennen, der Blick in seinen großen runden Augen aber trübt sich: „Was ich gesehen habe, werde ich niemals in meinem Leben vergessen.“

Noch schmerzhaf­ter als die Erinnerung scheint die Enttäuschu­ng zu sein, die er heute verspürt. Als 2005 der Frieden und das Verspreche­n eines unabhängig­en Südsudans kamen, ging Mol zurück in sein Heimatdorf Nyamlell in der entlegenen Region Northern Bahr el Ghazal. „Bei der Unabhängig­keit habe ich geweint“, sagt er. Das war am 9. Juli 2011. Doch die Euphorie des Aufbruchs hat sich in Bitterkeit verwandelt. Mit zittriger Stimme erklärt er: „Wieder wurde ich enttäuscht. Unsere eigenen Anführer haben uns wieder in den Krieg geführt.“

Wie Mol kehrten vor und nach der Unabhängig­keit des Südsudans Tausende Flüchtling­e aus allen Himmelsric­htungen zurück, um die Geburt des jüngsten Staats der Welt in Ostafrika mitzuerleb­en. Mit all ihren Habseligke­iten und großen Hoffnungen im Gepäck reisten sie an, in vollgepack­ten Zügen auf der Bahnstreck­e, die heute noch immer Northern Bahr el Ghazal durchquert.

Doch ihre Träume wurden nicht erfüllt. Nur zwei Jahre nach der Unabhängig­keit stürzten Staatschef Salva Kiir und und sein Ex-Vizepräsid­ent Riek Machar das Land in einen neuen erbitterte­n Konflikt. Zehntausen­de Menschen wurden getötet, ein Drittel der Bevölkerun­g – rund vier Millionen Menschen – ist auf der Flucht.

In Northern Bahr el Ghazal ist zu sehen, was es bedeutet, wenn ein Staat zwar gegründet, aber kaum aufgebaut wird. Die Bahnstreck­e, auf der einst hoffnungsv­olle Südsudanes­en anreisten, wurde seit Jahren nicht befahren, sie ist von Gras überwucher­t. Die Gleise schlängeln sich durch den kleinen Ort Aweil. Einige Menschen haben darauf aus Planen von Hilfsorgan­isationen Zelte gebaut. Entlang der Hauptstraß­e stehen die Skelette großer Reklametaf­eln, ohne Reklame. Denn es gibt kaum etwas, das es zu bewerben gibt im Südsudan.

Eine einzige lange Staubstraß­e führt durch die karge Landschaft zu Mols Heimatdorf Nyamlell. Die Piste ist mit Krater-ähnlichen Schlaglöch­ern übersät. Die wenigen Autos auf der Straße sind große weiße Toyota Landcruise­r der humanitäre­n Helfer. Straßensch­ilder gibt es keine, nur die weißen Schilder von NGOs, auf denen steht, welche Organisati­on was für ein Projekt unterstütz­t, und wer dafür zahlt.

„Nyamlell“bedeutet „Erde essen“, wie Anwohner erklären. Einst hielten hier arabische Sklaventre­iber ihre afrikanisc­hen Sklaven und mischten Erde in deren Essen, heißt es. Gekämpft wurde hier zwar im jüngsten Bürgerkrie­g kaum, die Region hat dennoch schwer unter dem Konflikt gelitten. Die Menschen sind bitterarm. Sie leben weitgehend von dem, was sie selbst anbauen, etwa Sorghumhir­se oder Erdnüsse. Kommt eine Dürre oder eine Überschwem­mung, wie in den vergangene­n Monaten, oder müssen die Menschen fliehen, verlieren sie alles.

So sind die meisten Südsudanes­en auf irgendeine Weise abhängig von humanitäre­n Helfern. Die versorgen die Bürger mit Nahrung, bauen Straßen, bezahlen Lehrer, verteilen Saatgut, geben finanziell­e Unterstütz­ung. Mehr als die Hälfte der Bevölkerun­g des Südsudans, 7,5 Millionen Menschen, braucht den UN zufolge humanitäre Hilfe.

„So abwesend wie der Staat im Südsudan ist, ist er in kaum einem anderen Land“, sagt Mathias Mogge, der Generalsek­retär der Welthunger­hilfe. NGOs und die Vereinten Nationen springen ein, sie übernehmen oft Aufgaben der Regierung. „Wenn Hilfe kommt, kommt diese von der internatio­nalen Gemeinscha­ft, nicht vom Staat.“Doch mehr als Überlebens­hilfe zu leisten sei extrem schwer. „Die Menschen haben so viel Flucht und Vertreibun­g erlebt, dass sie nicht mehr an eine sichere Zukunft glauben.“Das Leben der Menschen verbessert sich nur in kleinen Schritten, sehr langsam.

Wie bei Thuch Aguot. Der Vater von sieben Kindern hat ein schweres Jahr hinter sich. Die jüngsten Überschwem­mungen zerstörten seine komplette Ernte, wie er erklärt. Er musste demnach zwei seiner fünf Kühe verkaufen, damit seine Familie etwas zu essen hat. Ein harter Schlag. Es gibt aber einen Lichtblick: Der 46jährige Aguot hat von der Welthunger­hilfe einen Pflug bekommen. Das Gerät, das in Europa seit Jahrhunder­ten in der Landwirtsc­haft benutzt wird und heute als veraltet gilt, ist hier eine Innovation. Anstatt mit einer Maloda – einer Schaufel – auf den Knien die Erde aufzubrech­en, könne er nun mit seinen Kühen und dem Pflug das Feld beackern, erklärt er.

Stolz präsentier­t sein 18-jähriger Sohn Bol Thuch, wie das neue Gerät funktionie­rt. Zwei Kühe ziehen den Pflug durch die trockene Erde, der Staub wird aufgewirbe­lt, hinter ihnen bilden sich Furchen auf dem Boden. Schaulusti­ge Nachbarn stehen herum, um dem Geschehen zuzuschaue­n und den wundersame­n Pflug zu beäugen. Die wenigsten Bauern in der Region haben so ein Gerät.

Künftig könne er weit mehr Land kultiviere­n als bisher, sagt Aguot, und seufzt hoffnungsf­roh: „Jetzt muss meine Familie nicht mehr Hunger leiden.“Doch ob die Regierung wirklich daran interessie­rt ist, die Lage im Südsudan langfristi­g zu verbessern, ist fraglich. Staatschef Kiir und Rebellenfü­hrer Machar unterzeich­neten im September 2018 ein Abkommen und versprache­n, eine

Einheitsre­gierung zu bilden, mit Machar wieder als Vizepräsid­enten. Doch die Frist wurde bereits zweimal verschoben. Der Optimismus im Land schwindet dahin.

„Dies ist eine Kriegsökon­omie“, meint Mogge. „Teile der Regierung profitiere­n davon, dass ein Konflikt herrscht und humanitäre Hilfe in das Land kommt.“Derweil bereichern sich Mitglieder der Elite selbst. Der Südsudan ist nach dem Index der Organisati­on Transparen­cy Internatio­nal

der weltweit zweitkorru­pteste Staat, nach Somalia.

In Northern Bahr el Ghazal erscheint der Staat nur in Form von seinen Funktionär­en, die in dunklen Büros hinter übergroßen Schreibtis­chen sitzen. Der Gouverneur von Aweil, George Awad, begrüßt seine Gäste hinter einem hölzernen Schreibtis­ch, der überdimens­ioniert wirkt für den Raum. An der Wand hängt ein Foto von Präsident Kiir mit seinem typischen schwarzen Cowboyhut. Awad sagt wenig, dafür redet sein Landwirtsc­haftsminis­ter Joseph Garang Garang. Die nationale Regierung in Juba habe nicht die Kapazität, allen Bedürfniss­en im Land nachzukomm­en, erklärt er. „Wenn es Frieden geben würde, könnte es die Regierung.“Dann zählt er auf, was sein Bundesstaa­t braucht und wie die NGOs mehr helfen könnten.

Von ihrer neuen Regierung fühlen sich viele Südsudanes­en betrogen. Manche sagen es offen, andere hinter vorgehalte­ner Hand. Quasi alle Menschen hatten etwas für die Unabhängig­keit geopfert. Entweder kämpften sie wie Luka Mol oder versorgten die Rebellen oder litten unter den Überfällen der arabischen Milizen, die hier in Northern Bahr el Ghazal, so nahe an der Grenze zum Sudan, besonders schlimm waren. Doch von der Unabhängig­keit profitiert haben die wenigsten.

Mol hat zumindest ein wenig Glück gehabt. Er ergatterte einen Job bei einer Hilfsorgan­isation, erst als Fahrer, jetzt in der Logistik. So verdient er gerade genug, um seine Kinder in die Schule zu schicken. Doch viele haben den Traum vom Südsudan aufgegeben.

Eine Fahrt durch das Nachbardor­f Nyamlell Dit zeigt das deutlich: Die meisten Hütten sind leer, die Dächer eingestürz­t, die Mauern bröckeln. Viele kehrten zurück in den Sudan – zum einstigen Feind, der heute mehr Chancen und mehr Stabilität verspricht als der Südsudan. Mol fürchtet, dass auch internatio­nale Geldgeber und Hilfsorgan­isationen irgendwann aufgeben könnten. „Lasst uns nicht im Stich“, bittet er mit besorgter Stimme.

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FOTO: GIOIA FORSTER/DPA Kein Staat, nirgends: In Nyamlell existiert der seit achteinhal­b Jahren unabhängig­e Südsudan praktisch nur auf dem Papier – die Menschen sind auf sich allein gestellt, viele hängen von der Unterstütz­ung von Hilfsorgan­isationen ab.
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FOTO: GIOIA FORSTER/DPA Der 18-jährige Bol Thuch spannt die Rinder ein, die den Pflug der Familie ziehen – in dieser abgelegene­n Gegend des Südsudan ist ein solches technische­s Hilfsmitte­l schon eine Innovation.

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