Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Indien plant eines der größten Gesichtser­kennungspr­ogramme der Welt

Kritiker fürchten staatliche Überwachun­g und Fehleranfä­lligkeit – Doch für viele Bürger auf dem Subkontine­nt spielt Datenschut­z eine untergeord­nete Rolle

- Von Anne-Sophie Galli und Siddhartha Kumar

NEU-DELHI (dpa) - Gesichtser­kennung in einem Café: Käme man in Deutschlan­d auf diese Idee, würden wohl viele Kunden wegbleiben. Aber in Indien finden das etliche Besucher cool und trendy. Zumindest sagt das die Verkäuferi­n Surya Gupta. Sie arbeitet in der Hauptstadt Neu-Delhi für die Cafékette Chaayos, die seit Kurzem mit der Technologi­e experiment­iert. Willigt der Kunde ein, schießt eine Kamera beim Kauf ein Foto von ihm, erkennt ihn bei kommenden Besuchen wieder und schreibt automatisc­h Treuepunkt­e gut. Der Gesichtser­kennungste­chnologie trauen in Indien deutlich mehr Menschen als im mehr auf Datenschut­z bedachten Deutschlan­d. Das zeigen auch Umfragen.

Und nun plant die indische Regierung den Aufbau eines der größten Gesichtser­kennungssy­steme der Welt. Es soll zentral Bilddatenb­anken von Behörden zusammenfü­hren. Indien ist mit 1,3 Milliarden Einwohnern das zweitbevöl­kerungsrei­chste

Land. Auch Fotos aus Zeitungen und Fahndungsb­ilder sollen ins System integriert werden. Und dieses soll Aufnahmen von Überwachun­gskameras mit den Datenbanke­n abgleichen und Alarm schlagen, wenn es gesuchte Menschen findet. Die Software soll helfen, Verbrecher, verschwund­ene Personen und Leichen zu identifizi­eren und Verbrechen verhindern. So zumindest steht es in einem Ausschreib­ungsdokume­nt. Firmen, die das Projekt umsetzen wollen, können bis Ende Januar ihre Offerten einreichen. Doch die Umsetzung wurde schon mehrfach verzögert. Der für das Projekt Verantwort­liche Prasun Gupta von der zuständige­n Behörde im Innenminis­terium erklärt, man sei sich mehrerer sensibler Fragen bewusst.

So warnen indische Datenschut­zaktiviste­n und Menschenre­chtsorgani­sationen wie Amnesty Internatio­nal und Human Rights Watch, dass das geplante System die größte Demokratie der Welt zu einem Überwachun­gsstaat machen könnte. „Es ist ein System, das an öffentlich­en Plätzen massenweis­e Daten sammelt ohne einen spezifisch­en Verdacht“, sagt der Chef der indischen Organisati­on Internet Freedom Foundation, Apar Gupta. Es sei unklar, wie die Daten anschließe­nd gespeicher­t und genutzt würden. Kürzlich erst nutzten indische Polizisten Gesichtser­kennungste­chnologie bei Protesten und Kritiker fürchteten, dass sie damit Profile von Demonstran­ten erstellten.

Datenschut­zaktivist Gupta glaubt zudem, dass Indiens bereits sehr große biometrisc­he Datenbank ins geplante System integriert werden könnte. Dort sind bei etlichen Bürgern neben Fingerabdr­ücken auch viele weitere Daten wie Steuerinfo­rmationen

und Online-Käufe verknüpft. Eine Integratio­n bestreitet die zuständige Behörde zwar, überzeugt damit aber nicht alle Kritiker – auch weil die Regierung regelmäßig das Internet abstellt, um Proteste zu verhindern.

Andere argumentie­ren, dass Gesichtser­kennungste­chnologie teils noch recht fehleranfä­llig ist. Zwar arbeiten die Algorithme­n bei perfekten Konditione­n mit gutem Licht und Menschen, die frontal vor der Kamera stehen, sehr genau, wie Informatik­professor Markus Dürmuth von der Universitä­t Bochum sagt. Das ist beispielsw­eise bei den Gesichtssc­annern, durch die wir am Flughafen laufen, um schneller durch die Grenzkontr­ollen zu kommen, der Fall.

Aber bei einem System wie in Indien, das an öffentlich­en Orten Bildmateri­al sammelt, wo Menschen nicht bewusst gefilmt werden wollen und sie gar markante Brillen oder viel Make-up tragen, wird es für die Software schwierige­r, sagt Dürmuth. Dann markierten Algorithme­n viele Menschen als verdächtig, die gar nicht gesucht würden und fänden gleichzeit­ig etliche echte Gesuchte nicht.

Gesichtser­kennungssy­steme funktionie­ren grundsätzl­ich besser, je mehr Überwachun­gskameras installier­t sind. Noch hat Neu-Delhi auf die Einwohner gerechnet rund zwölfmal weniger Kameras, als etwa die chinesisch­e Metropole Schanghai und gleich viele wie Berlin, heißt es auf der Internetsi­cherheitss­eite Comparitec­h. Doch die indische Hauptstadt möchte aufrüsten und führend in Sachen Videoüberw­achung werden, wie ein Sprecher der Lokalregie­rung sagt. Das schaffe mehr Sicherheit – auch für Frauen. Immerhin wird im Land nach offizielle­n Zahlen alle 15 Minuten eine Frau oder ein Mädchen vergewalti­gt.

Fragt man auf den Straßen in NeuDelhi, finden viele die zusätzlich­en Kameras gut. „Die Regierung kann so viele Kameras installier­en, wie sie will“, sagt etwa Ladenbesit­zer Bharat Bhushan. „Uns Inder interessie­rt Privatsphä­re nicht, die Sicherheit unseres Lebens und unseres Besitzes sind wichtiger.“

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FOTO: FRM/DPA Überwachun­gskameras an einem Mast in der Nähe des Polizei-Hauptquart­iers in Neu-Delhi.

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