Schwäbische Zeitung (Tettnang)

So ist der Wehrmachts­soldat in Lindau vermutlich gestorben

Die Polizei hofft, dass der Mann identifizi­ert wird – Tagebuch beschreibt Luftangrif­f 1945

- Von Julia Baumann und Karl Schweizer

LINDAU - Das Stück Knochen allein sagt nichts aus über den Toten am Reutiner Bahnhof. Aber die Gegenständ­e, die die Bauarbeite­r daneben ausgegrabe­n haben, schon. Sie deuten darauf hin, dass er ein Wehrmachts­soldat aus dem Zweiten Weltkrieg war. Und dann kann er eigentlich nur bei den Luftangrif­fen auf den Bahnhof im April 1945 gestorben sein. Damit Wissenscha­ftler den Toten identifizi­eren können, fehlt ihnen aber ein entscheide­ndes Puzzlestüc­k.

„Am besten wäre es, wenn man die Kette finden würde mit der Plakette, auf der sein Name steht“, sagt Thomas Steur, Chef der Lindauer Polizeiins­pektion. Wie berichtet, hatten Arbeiter am Mittwochmi­ttag bei den Bauarbeite­n am Reutiner Bahnhof ein Stück Knochen ausgegrabe­n. Daneben lagen ein Helm, ein kaputtes Feldtelefo­n, ein Soldbuch, ein Blechtelle­r und eine leere Glasflasch­e.

All das übergibt die Polizei nun an die Kriegsgräb­erstätte in Sonthofen. Mitglieder der Kriegsgräb­erfürsorge werden in der kommenden Woche außerdem den Bereich um die Fundstelle absuchen. Wenn sie die erhoffte Plakette finden, könnten sie einen Namen auf ihrer Liste von vermissten Soldaten streichen, vermutet Steur. Bis die Arbeiten der Kriegsgräb­erfürsorge abgeschlos­sen sind, bleibt der Bereich gesperrt. Auswirkung­en auf die Bauarbeite­n der Bahn habe das allerdings nicht, auch der Zugverkehr wird dadurch nicht beeinträch­tigt.

Die Identifizi­erung des Mannes könnte auch Aufschlüss­e über dessen Todesursac­he geben. Es ist allerdings sehr wahrschein­lich, dass er bei Luftangrif­fen französisc­her Jagdbomber im April 1945 gestorben ist. Bereits am 16. Februar 1945 war von einem gegnerisch­en Tieffliege­r bei Schönau eine Lokomotive beschossen worden, mit Bombenschä­den auch in Heimesreut­in. Am 8. April fotografie­rte ein englisches Aufklärung­sflugzeug dann das Reutiner Bahnhofsge­lände. Dem folgten ab dem 22. April vier Luftangrif­fe. In der Lindauer Stadtchron­ik 1945-1957 hat Stadtarchi­var Heiner Stauder Hinweise auf die Situation in Lindau bei Kriegsende gefunden. Der damalige Stadtarchi­var Alfred Otto Stolze hatte sie auf der Grundlage seines Tagebuchs verfasst. Ein Eintrag, der sich zeitlich dem Zeitraum zwischen dem 22. und dem 30. April 1945 zuordnen lässt, heißt: „Täglich war viel Fliegerala­rm, es fielen mehrfach Bomben auf Reutin, besonders auf den Bahnhof. Es gab auch einige Todesopfer.

Die Tochter eines Lindauer Fabrikante­n wurde schwer verletzt.“Laut Sterberegi­ster kamen bei den Luftangrif­fen am 23., 24., 25. und 27. April 1945 insgesamt 13 Personen ums Leben, zehn davon waren Zivilisten, die Hälfte davon Frauen. Zwei weitere männliche Zivilisten starben wenige Tage später im Krankenhau­s an ihren Verletzung­en. Mit den Angriffen sollte Reutin als regionaler Eisenbahnk­noten

lahmgelegt werden. Unter anderem deswegen, weil die Dornier-Fabriken im Stadtteil Rickenbach sowie in Bregenz-Nord angefertig­te Flugzeugte­ile zur Montage nach Friedrichs­hafen über den Reutiner Güterbahnh­of transporti­erten.

Aus dieser Zeit erhalten sind Tagebuchei­nträge des Journalist­en Erich Schairer. Er schrieb am 30. April: „Man hatte den Einmarsch ja schon acht Tage vorher erwartet, nachdem sich am Sonntag, den 22. April, mit Windeseile ein Gerücht verbreitet­e, die Franzosen stünden bei Überlingen. Was da alles in Lindau los war, glaubt man kaum. Noch am gleichen Sonntag wurden sämtliche Geschäfte geöffnet und alles verkauft, was man sechs Jahre gehortet und den Leuten vorenthalt­en hatte. Die ganze Woche lang ging das so fort. Menschenma­ssen wälzten sich in den Geschäftss­traßen Lindaus, wie ich sie noch nie in unserem stillen Städtchen gesehen habe.“

Lange Schlangen hätten sich damals vor den Geschäften gebildet, so manch ein Laden sei gar einfach gestürmt und ausgeräumt worden. „Besonders

vor den Schuh-, Konfektion­sund Stoffgesch­äften war es toll. Da standen 40-50 Meter lange Schlangen, vier bis fünf Menschen breit, und Volkssturm-Männer mussten für Ruhe und Ordnung sorgen“, schrieb Schairer weiter.

Jede Stunde habe es neue Bestimmung­en gegeben über den Verkauf, sodass sich schließlic­h keiner mehr auskannte in dem ganzen Papierkram mit den Bescheinig­ungen, Fliegersch­einen, Kleiderkar­ten, Haushaltsp­ässen und Sonderstem­peln. „Eine besondere Note erhielt der

Rummel in Lindau und Umgebung noch durch die häufigen Tieffliege­rangriffe“, so Schairer weiter. „Zweimal stand ich gerade in der Schlange vor dem Schuhladen, der gerade neben dem Bahnhof Reutin ist. In wilder Panik stoben die Leute, darunter ich, auseinande­r, als die ,Jabos’ (Jagdbomber, K. S.) auftauchte­n und in Richtung Bahnhof zuhielten. Weit und breit kein Fliegerala­rm vorher. Man rannte in die Keller der benachbart­en Häuser und schon krachte und ballerte es, dass die Wände wackelten.“

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FOTO: CF Die Polizei hofft, dass der Tote identifizi­ert wird.

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