Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Dünne Luft
Selbstverständlich: Wer aus zwei oder drei Spielen allen Ernstes einen halbwegs seriösen und validen Trend ableiten möchte, neigt entweder zur kurzatmigen Hysterie – oder verdient sein Geld als Beobachter des Fußballgeschehens. Nun wissen wir nicht, ob
irgendwann im vierten Jahrhundert vor Christus auch nur eine verschwommene Vision hatte, dass irgendwann einmal Erdenbürger mit heiligem Ernst über andere Erdenbürger debattieren würden, die mehr oder weniger erfolgreich einem Ball hinterherlaufen können. Doch vermutlich meinte der große Universalgelehrte auch uns. Ebenso nämlich wie eine Schwalbe noch keinen Frühling (Aristoteles, Nikomachische Ethik) macht oder der Nikolaus noch nie der Osterhase war (keineswegs Aristoteles, sondern
aus dem Bauch), entscheiden zwei oder drei Spiele im Winter ganz sicher nicht über den engsten Titelkampf in der Bundesliga seit der Saison 2011/2012.
Aristoteles Hoeneß,
GUli
Darum zunächst zu den Fakten: RB Leipzig, kurz vor Weihnachten schon von so ziemlich allen Experten zum Titelfavoriten Nummer 1 ernannt, hat in drei Rückrundenspielen vier Punkte Vorsprung auf den FC Bayern München verspielt und fährt nach dem glücklichen 2:2 gegen Mönchengladbach nun am Sonntag mit einem Zähler Rückstand nach München. Zwischen dem neuen Tabellenführer und dem Vierten Mönchengladbach liegen gerade einmal drei Punkte; zwischen den von Trainer wieder stabilisierten Bayern und Borussia Dortmund mit seinem neuen Himmelsstürmer
übrigens auch. 2011/2012, als der Kampf um die Meisterschale nach dem 20. Spieltag ebenfalls ein Vierkampf war, führte der BVB mit 43 Punkten die Tabelle an. Vor den punktgleichen Bayern und Schalke (je 41 Zähler) und Mönchengladbach. Meister wurde damals Dortmund. Doch dies wirklich nur nebenbei, daraus einen Trend für die aktuelle Spielzeit herzuleiten, wäre sicher auch nicht in Aristoteles’ Sinne.
GHansi Flick Erling Haaland
Es zeigt jedoch: Bayern, Dortmund und auch Mönchengladbach haben durchaus Erfahrung mit derlei Situationen. Die in jeder Hinsicht junge Leipziger Mannschaft um den ebenso jungen und titellosen, aber in jeder Beziehung sehr reifen Trainer
betritt in dieser Hinsicht ständig Neuland. „Wir sind kurz vorm Gipfel und die Frage, die wir uns stellen müssen, ist diese: Wollen wir ans Gipfelkreuz oder drunter parken, was essen und trinken und dann wieder runtergehen?“, fragte Nagelsmann schon vergangene Woche nach der Niederlage der Seinen in Frankfurt. Erfahrene Gipfelstürmer wissen: Nach oben zu kommen ist nicht so schwer, oben zu
Julian Nagelsmann
bleiben dagegen sehr (weder Aristoteles, noch Uli Hoeneß,
2010). Und erfahrene Titeljäger wissen auch, dass die Luft an der Spitze recht dünn werden kann. Sie haben auch schon Bekanntschaft gemacht mit der im Fußball als „Titelflatter“bekannten Höhenkrankheit.
Lahm,
GFavre Philipp Lucien
Den BVB und seinen Trainer befiel diese tückische Krankheit etwa in der vergangenen Rückrunde, als sogar neun Punkte Vorsprung nicht reichten. Der BVB brauchte eine ganze Hinrunde – und einen Haaland, um sich davon zu erholen. Zur Sicherheit holten die Dortmunder noch auf den letzten Drücker von Juventus, noch so einem in der Höhenluft quasi geborenen Club. Auch im Umgang mit einem gewissen höhenluftbedingten Protzwahn – Stichwort
Winterpausentour durch Dubai inklusive Gold-SteakDinners – haben titelerfahrenere Vereine wie Dortmund mittlerweile so viel Erfahrung, dass sie derlei Vorfälle mit einer gewissen Unaufgeregtheit moderieren können.
GEmre Can Sanchos Edwards, HD Cutz Jadon
In Leipzig geriet dagegen das von den Spielern bezahlte Einfliegen des Londoner Promifriseurs
alias vor dem 0:2 in Frankfurt zu einer mittleren Staatsaffäre. Nagelsmann fand das gar mal so schlimm, er hatte seine Gipfelkritik auf die Trainingseinstellung bezogen. Doch ehedem Oberzampano und Mastermind des Leipziger Fußballprojekts im Namen der Dose und nun auch als Head of irgendwas für die Fußballaktivitätaten Red Bulls natütlich noch immer Mastermind, brachte das auf den Plan. „Das ist dekadent. Da ist der Weg zum goldenen Steak nicht mehr weit“, schimpfte der Backnanger und knöpfte sich einige Führungsspieler zum Einzelgespräch vor. Nagelsmann, wie gesagt in allen Belangen schon sehr reif, sagte dazu nun nur sehr diplomatisch: „Wenn viel um einen Club herumgeistert, ist es immer auch ein bisschen ablenkend.“
Sheldon Ralf Rangnick,