Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Hausbootputz statt Boat Race
Tina Christmann studiert in und rudert für Oxford – Auf das Rennen gegen Cambridge musste sie am Sonntag schweren Herzens verzichten
LONDON (dpa) - Die deutsche Rudererin Tina Christmann erlebt in diesen Tagen ein Gefühlschaos. Sie sei „verwirrt, traurig und entspannt zugleich“, sagt die 24-Jährige. Die Präsidentin des Oxford University Women’s Boat Club hätte am Sonntag eigentlich mit ihrem Team das berühmte Boat Race auf der Themse bestreiten sollen. Doch wie viele andere Sportveranstaltungen fiel auch das prestigeträchtige Rennen gegen die Universität Cambridge der Coronavirus-Pandemie zum Opfer. Und Tina Christmann hat auf einmal viel Zeit für andere Dinge.
Mehrere Monate hartes Training und „wahnsinnig viel Energie“hat die Studentin mit ihren Kommilitoninnen investiert: „Viele meiner Mitrudererinnen haben dieses Jahr immense Kompromisse mit ihrem Studium machen müssen, und gerade für diese Mädels hätte ich es mir so gewünscht zu gewinnen.“2018 hatte Tina Christmann mit ihrem Team gegen Cambridge verloren, nach dem diesjährigen Boat Race hatte sie ihre Ruderkarriere beenden wollen. Nun überlegt sie, ob sie noch ein Jahr dranhängt.
Die Rivalität zwischen den Ruderteams der beiden Universitäten hat eine fast 200 Jahre lange Tradition. Sie geht auf Charles Wordsworth und Charles Merrivale zurück, zwei ehemalige Schulkameraden, die sich wiederbegegneten, als der eine in Oxford und der andere in Cambridge studierte. Die beiden vereinbarten ein Ruderduell. 1829 fand das erste Boat
Race der Männer statt, seit 1856 wurde es – außer während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs – jährlich ausgetragen. Bis jetzt.
Die Frauen gingen mehr als 100 Jahre später an den Start. Premiere war zwar 1927, aber erst seit 1964 rudern auch sie einmal im Jahr gegeneinander. Dass es 2020 erstmals nicht dazu kommt, nennt Tina Christmann eine „notwendige Enttäuschung“. Ein Ereignis dieser Größe könne derzeit einfach nicht stattfinden, sagt sie. Schließlich drängen sich mehr als 250 000 Zuschauer am Ufer der Themse und feuern die Teilnehmer an. Die Gefahr einer Massenansteckung wäre einfach zu groß.
Bei aller Enttäuschung – die Sportlerin aus Mühlheim am Main kann der plötzlichen Absage auch etwas Positives abgewinnen. „Es fühlt sich an, als hätte ich zwei kostenlose Wochen bekommen, mit denen ich nicht gerechnet habe“, sagt Tina Christmann, die im Alter von elf Jahren das Rudern für sich entdeckte. „Und auf einmal habe ich unfassbar viel Zeit zum Arbeiten, Ausspannen und Reflektieren.“
Bis zur Absage trainierte Tina Christmann, die in Oxford ihren Master in „Biodiversity, Conservation and Management“macht, zweimal am Tag. Dafür stand sie täglich um 5.30 Uhr auf. Schon als Kind habe sie „extrem viel Zeit reingesteckt. Einmal hatte ich einen kleinen Streit mit meiner Mutter und habe Hausarrest bekommen. Aber ich bin ausgebrochen, damit ich zum Training konnte.“
Training ist bei der Ausgangssperre in Großbritannien aktuell nicht möglich. „Es ist seltsam, meine Trainingskollegen nicht mehr zweimal täglich zu sehen, und auch auf neuen Indoor-Sport muss ich mich jetzt einstellen“, sagt Tina Christmann. So richtig verarbeitet habe sie das alles noch nicht. „Auf einmal fühlt sich mein Leben so fremd an.“
Auch private Pläne haben sich durch die Coronavirus-Krise in Luft aufgelöst. Ein lange geplanter Urlaub mit den Eltern ist abgesagt. „Da macht es Sinn, sich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren und kleine Projekte anzugehen“, sagt Tina Christmann. „Ich habe mir vorgenommen, mein Hausboot, auf dem ich lebe, zu dekorieren, meine Masterarbeit so schnell wie möglich fertigzuschreiben und – wenn möglich – ganz viel joggen zu gehen und zu gärtnern.“Und über ein weiteres Karrierejahr nachzudenken.
Oxford – Cambridge, Stand Männer nach 165 Austragungen: Cambridge 84 Siege, Oxford 80, ein Unentschieden (1877). – Stand Frauen nach 74 Rennen: Cambridge 44 Siege, Oxford 30.