Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Systemrelevant und illegal
Hunderttausende Bedürftige werden hierzulande von Osteuropäerinnen gepflegt – Die allermeisten arbeiten schwarz – Die Corona-Krise wirft ein Schlaglicht auf die Missstände
Eine Wand dieses kleinen, aber hellen Zimmers ziert ein Holzkreuz. Darunter hängen Farbfotos, die junge Menschen im Grünen zeigen, lachend und zufrieden. Es sind die Enkelkinder von Hildegard Wagner. Die 95-Jährige liegt im Bett und schaut aus dem Fenster, die Augen weit geöffnet, der Blick starr. Sie hat Alzheimer, seit mehr als zehn Jahren. Die alte Frau besitzt wohl keine Erinnerung an ihr langes Leben auf der Schwäbischen Alb, an ihre Kinder und Enkelkinder oder gar an ihren Mann Helmut, der, von stabiler Gesundheit, nur ein Zimmer weiter sitzt. Beide bekommen gleich Mittagessen, zubereitet von Sahra, der polnischen Pflegerin, für Frau Wagner gibt es einen Gemüsebrei mit Hühnchen. „Das mag sie“, sagt Sahra. Die 68-Jährige kennt die Vorlieben ihrer schweigsamen Patientin, weiß, wann Hunger oder Durst sie überkommen, wann es neue Bettwäsche braucht oder frische Luft durch ein geöffnetes Fenster. Wann Zuspruch die Seele und das Gemüt beruhigen. Sahra ist eine Ausnahmeerscheinung. Aber nicht nur wegen ihrer Fürsorge und Herzlichkeit. Sondern weil die Frau aus Krakau auf der Schwäbischen Alb ganz legal arbeitet.
Pflegewesen und Politik hatten vor einigen Jahren noch einen klaren Plan, der, überspitzt formuliert, lautete: Heime, Heime, Heime. Dort sollten alte Menschen gut versorgt ihren Lebensabend verbringen. Unterkünfte gibt es hierzulande, darunter viele gute. Heute wissen jedoch alle; das reicht nicht, nicht bei der Altersstruktur der Bevölkerung, nicht bei den Bedürfnissen der Betroffenen, die ihre letzten Jahre zu Hause verbringen wollen. Oft gepflegt von den Angehörigen, aufopferungsvoll und bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Wird diese Grenze überschritten, braucht es eine Vollzeitpflege. Doch woher nehmen, in einem Land, dem schon das Personal in den Kliniken fehlt? Die Antwort lautet: aus Osteuropa, aus Polen, Rumänien, der Ukraine. Der Verband für häusliche Betreuung
und Pflege (vhbp) geht von 300 000 deutschen Haushalten aus, die auf rund 700 000 osteuropäische Frauen angewiesen sind. Davon arbeiten nach übereinstimmenden Schätzungen bis zu 90 Prozent illegal. „Das ist erbärmlich und zeigt, wie unsere Prioritäten verteilt sind“, beklagt vhbp-Geschäftsführer Frederic Seebohm.
Erschreckend auch, weil seit Jahren jeder um diese gewaltige Schattenwirtschaft für Bedürftige weiß, sich aber nichts ändert. Nun hat die Corona-Krise ein Schlaglicht auf die Zustände geworfen. Durch die Grenzschließungen drohte zeitweise das fragile deutsche System zusammenzubrechen, polnische Pflegerinnen mussten bei ihrer Rückkehr in die Heimat in Quarantäne und die ganze Familie gleich mit. Manche wollten nicht mehr nach Deutschland, es kam zu skurrilen Situationen, wenn Busfahrer die Frauen nicht über die Grenze brachten, weil sie sonst selber nicht mehr zurückkamen. „Inzwischen ist die Lage stabil“, sagt vhbpGeschäftsführer Seebohm. Die strengen Quarantäneregeln wurden in Polen aufgehoben und beiderseits können Pflegerinnen die Grenze passieren, auch die illegalen, die keine Steuern zahlen, keine Sozialabgaben. Was aber einmal mehr zeigt: Die Verantwortlichen schauen weg. Für Seebohm ein Skandal.
„Der Spargel wird bei uns legal gestochen“, beklagt der Geschäftsführer. „Da werden Kamerateams an den Flughafen geschickt, um die Helfer aus Osteuropa feierlich zu begrüßen. Gleichzeitig lassen wir zu, dass alte, kranke und sterbende Menschen schwarz gepflegt werden. Und niemand schert sich darum.“
Der Umgang in der CoronaKrise verärgert auch Helmut Wagner, obwohl er mit Sahra eine legale Kraft beschäftigt. Strenge Quarantäneregeln, komplizierte Verordnungen und eine Politik ohne Verständnis für die Betroffenen haben den 91-Jährigen zur Verzweiflung gebracht. „Wenn sie am Donnerstagabend nicht wissen, ob am Montagmorgen eine Pflegerin aus Polen ihre Frau betreut, haben sie schlaflose
Frederic Seebohm, Verband für häusliche Betreuung und Pflege Nächte.“Nicht zum ersten Mal, weiß Helmut Wagner doch schon lange um die Probleme in der Pflege.
Im Alter von 80 Jahren bekam seine Frau erste Gedächtnisausfälle, vergaß, die Kaffeemaschine anzustellen oder verlegte Kleinigkeiten. Was harmlos begann, mündete wenige Jahre später in der Diagnose Alzheimer. Und dem rapiden Verlust der Lebensführung, Einkäufe, Küche oder Haushalt konnte Hildegard Wagner nicht mehr erledigen, Sprache und Gedächtnis setzten bei ihr aus. Die Seniorin verlor sich in eine andere Welt. Anfangs konnte ihr Mann die Belastung noch selber und über eine Haushaltshilfe auffangen, doch bald verließen ihn die Kräfte. Eine „Rund-um-die-Uhr-Pflege“musste her. Leicht gesagt. „Das Arbeitsamt konnte mir keine einzige bezahlbare Person nennen.“Andernorts gab es zwar Angebote, doch illegaler Natur. Was einen Menschen, der sein Leben lang nach Recht und Ordnung handelt, schnell in einen inneren Konflikt bringt.
Helmut Wagner stieß schließlich auf die „Hausengel“, die seit 15 Jahren einen 24-Stunden-Betreuungsdienst vermittelt für alte und kranke Menschen, mit osteuropäischen Pflegekräften, aber legal. Eine drohende Scheinselbstständigkeit vermeidet die Vermittlungsagentur durch ein Ablösesystem, wobei eine Pflegekraft nicht länger als sechs bis acht Wochen auf der Schwäbischen Alb bleibt, dann in ihre Heimat fährt, um nach einer Weile zu den Wagners zurückzukehren. Probleme gab es damit nie. „Die Polinnen sind sehr großzügig“, sagt Wagner, dem davon abgesehen zwei Dinge wichtig sind: „Die sichere Abdeckung aller gesetzlichen Verpflichtungen und die Entlastung vom bürokratischen Zeitaufwand, der mich daran hindert, mich meiner Hauptaufgabe zu widmen: der Fürsorge für meine Frau.“Dieser Wunsch wird ihm erfüllt, auch wenn sich die Dinge im Hintergrund bisweilen als schwierig erweisen.
„Das Modell der Selbstständigkeit ist rechtlich sauber, aber riskant“, sagt vhbp-Geschäftsführer Seebohm. „Weil immer das Damoklesschwert darüber hängt, dass diese Selbstständigkeit zur Scheinselbstständigkeit erklärt wird.“Klagen gegen das Selbständigenmodell gab es, aber das Bundessozialgericht hat es schon 2011 für zulässig erklärt. Dennoch fordert Seebohm: „Für den Bereich der häuslichen Pflege brauchen wir händeringend eine Rechtssicherheit, die es in Österreich schon lange gibt.“Seit einer gesetzlichen Regelung aus dem Jahr 2007 arbeiten dort Osteuropäerinnen legal in der Pflege, steuer- und sozialabgabenpflichtig, mit Qualitätsstandards für die Agenturen und ihr Personal. Eine Familie, die entsprechende Dienste wahrnimmt, erhält 550 Euro zusätzlich von der Pflegeversicherung, sofern die Betreuungspersonen nach zwei Wochen abgelöst werden. Von dem Modell ist auch Hilde Mattheis (SPD), Bundestagsabgeordnete für Um und Donau Alb, überzeugt: „Wir können von Ländern wie Österreich lernen“, sagt sie der „Schwäbischen Zeitung“.
Der Pflegeexpertin ist noch ein anderer Punkt wichtig: „Bei uns hakt es daran, dass wir eine sehr zerstückelte Angebotspalette der ambulanten Dienstleistungen haben“, sagt Mattheis. „Wir müssen überlegen, wie wir diese Aufsplittung zu einem Gesamtbudget bündeln können, das die Leute individuell und gezielt einsetzen können.“Andreas Westerfellhaus, Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung, sieht es ähnlich. „Der bestehende Leistungskatalog der Pflegeversicherung ist jedoch oft zu kompliziert, die Verfahren zu bürokratisch, zu starr. Das muss sich ändern“, sagt Westerfellhaus auf Anfrage. Deshalb schlägt er eine Neuordnung der Leistungen vor mit lediglich zwei Budgets, „die nahezu alle Ansprüche für die Pflege zu Hause umfassen“.
Eine Bündelung stellt sich auch Juliane Bohl vor, vom Vorstand der „Hausengel“: „Mein Wunsch wäre, die Betreuung im häuslichen Umfeld an die ambulante Fachpflege anzugliedern.“Vorteil: Die Fachpflege würde den Bedarf an medizinischer Betreuung ermitteln, diesen einmal am Tag abdecken und dafür einen Betrag von beispielsweise 900 Euro berechnen. Bei einem Budget von 1300 Euro in der Pflegestufe 3 blieben in dieser Beispielrechnung rund 400 Euro übrig, die ein Betroffener bisher gar nicht abrufen kann. Die er bei einer Bündelung aber in die häusliche Pflege stecken könnte.
Geld, das viele private Haushalte gerne hätten, schlägt eine Vollzeitpflege laut Bohl doch mit 2200 bis 2500 Euro zu Buche, in Schwarzarbeit mit rund 1500 Euro.
Was verwundert: Die Experten wissen um die anhaltenden Probleme, sie kennen auch Lösungen, die in ähnliche Richtungen weisen. Warum bewegt sich dann seit Jahren kaum etwas? Juliane Bohl sieht einen Interessenkonflikt: „Jeder, mit dem Sie sprechen, zeigt Verständnis. Die heiße Kartoffel will aber niemand anfassen.“Weil einfach zu viele Ressorts betroffen seien, das Gesundheitsministerium, das Ministerium für Arbeit und Soziales, das Familienministerium, und das EU-Recht wird auch tangiert. „Das sind verschiedene Position in einer ganz schwierigen Problematik“, so Bohl. Die nicht zuletzt auch durch Lobbyismus verstärkt wird, wie Hilde Mattheis betont: „Wir haben viele private Anbieter, die nichts ändern wollen, damit sich der Markt nicht verkleinert.“Laut Frederic Seebohm vom vhbp kommt erschwerend ein Problem in den Köpfen der Menschen dazu: „Viele denken noch immer, häusliche Betreuung ist etwas für die oberen Zehntausend, für die richtig Reichen. Das ist aber nicht der Fall.“
Wer wissen will, wie die Realität aussieht, muss zu den Menschen, etwa auf die Schwäbische Alb zu Helmut Wagner, der längst festgestellt hat: „Die Gesetzesmacher sind weit weg von der Lebenswirklichkeit.“Seine Lebenswirklichkeit ist eine schwer kranke Frau, die unter chronischen Schluckbeschwerden leidet und die kaum eine Tätigkeit alleine ausführen kann. Die er liebt und der er vor mehr als 60 Jahren ein Eheversprechen gegeben hat. „Das will ich einhalten“, sagt der 91-Jährige. Dazu braucht er aber Hilfe, jeden Tag, rund um die Uhr.
„Wir lassen zu, dass alte, kranke und sterbende Menschen schwarz gepflegt werden. Und niemand schert sich darum.“
Hildegard Wagner kann ihrer Krankheit wegen nicht um das Einverständnis zu diesem Artikel gefragt werden, deshalb wurde ihr Name sowie der ihres Mannes verändert.