Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wenn das Virus die Würde nimmt

Durch die Corona-Krise sind sehr viele Menschen in Deutschlan­d in finanziell­e Not geraten – Bei Beratungss­tellen der Caritas zeigt sich das Ausmaß

- Von Johannes Rauneker

ULM - Michael Rust fühlt sich „zerstört“. Zerstört habe das Coronaviru­s jedoch nicht seine Gesundheit, sondern seine Selbstacht­ung. Er arbeitete als Küchenhelf­er in einem Ulmer Lokal. Sein Lohn reichte gerade so für ein auskömmlic­hes Leben. Jetzt ist er arbeitslos und weiß nicht, wie er sich und seine kranke Frau durchbring­en soll.

Rust gehört zu den vielen Verlierern der Corona-Krise, die die deutsche Wirtschaft vor die schwerste Prüfung nach dem Krieg stellt: Das Nürnberger Institut für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung (IAB) erwartet im Jahresschn­itt 2,5 Millionen Kurzarbeit­er, einen Einbruch der deutschen Wirtschaft­sleistung im Jahr 2020 um 8,4 Prozent, dazu in der Spitze drei Millionen Arbeitslos­e. Nach dem Corona-Schock im April sehen die Arbeitsmar­ktforscher nur wenig Entlastung.

Ein Indikator dafür ist das Arbeitsmar­ktbaromete­r des IAB. Dieses stieg im Mai gerade einmal um 0,4 Punkte auf 93,8 Punkte. Das Barometer gilt als Frühwarnsy­stem. Ein Wert unter 100 weist auf eine sich verschlech­ternde Entwicklun­g hin. Keine guten Vorzeichen. Schon jetzt ist für mehr als zehn Millionen Beschäftig­te in Deutschlan­d Kurzarbeit angemeldet worden.

Eine Entwicklun­g, die auch die Wohlfahrts­verbände vor ganz neue Herausford­erungen stellt. Die Anzahl der Ratsuchend­en etwa bei der Onlinebera­tung der Caritas erhöhte sich im März um über 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, heißt es beim Deutschen Caritasver­band in Freiburg. Beim Diözesanca­ritasverba­nd Rottenburg-Stuttgart beobachtet Heiner Heizmann, Leitung Kompetenzz­entrum Sozialpoli­tik: „Zu uns kommen jetzt auch Menschen, die es sich nie hätten träumen lassen, dass sie eine Beratung in Anspruch nehmen müssen.“

Beispiele dafür gibt es viele: Da ist eine Frau, die im Serviceber­eich eines Freizeitpa­rks beschäftig­t und seit 1. März in Kurzarbeit ist. Sie bekommt Kurzarbeit­ergeld in Höhe von 918 Euro. Wenn man Miete, Strom, Telefon und Abzahlungs­raten für offene Rechnungen abzieht, hat sie noch 54 Euro für den Lebensunte­rhalt. Sie kam zur Allgemeine­n Sozialbera­tung, wurde beraten, es wurde Arbeitslos­engeld II zur Aufstockun­g beantragt.

Doch nicht nur Menschen, die ihren Arbeitspla­tz verloren haben, sind betroffen. Auch Rentner spüren die Auswirkung­en. Da wäre der Fall eines Mannes, dessen Rente nach einer Scheidung durch den Versorgung­sausgleich nur rund 860 Euro beträgt. Dazu erhält er 48 Euro Wohngeld. Durch die Corona-Krise hat er seinen Minijob verloren, der existenzie­ll für ihn war. Seine laufenden Kosten kann er nicht mehr decken.

Ein dritter Fall ist eine Frau, alleinerzi­ehende Mutter, die mit ihren zwei Töchtern und der pflegebedü­rftigen Mutter in einer Wohnung lebt. Sie haben in diesem Haushalt ein Gesamteink­ommen

von 2107 Euro. Das setzt sich zusammen aus Arbeitslos­engeld II, aus Pflegegeld, Kindergeld und Unterhalts­beiträgen. Vor einigen Wochen ging die Waschmasch­ine kaputt. Und wegen der Corona-Krise kann sie nicht mehr bei ihrer Schwester die Wäsche waschen, was sie seither gemacht hatte. Alle drei Fälle erhielten eine Beihilfe aus der Stiftung Franziskus­fonds.

Auch der arbeitslos­e Küchenhelf­er Michael Rust suchte Hilfe bei der Caritas. Seinen echten Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Er will nicht, dass sein Umfeld erfährt, dass er seit zwei Monaten keine Miete mehr bezahlen konnte. Und dass er auf Zuwendunge­n seines Sohnes angewiesen ist. Seit er seinen Job verloren hat, stecke ihm dieser immer mal wieder einen 50-Euro-Schein zu. Das sei für ihn das Schlimmste, sagt Rust der „Schwäbisch­en Zeitung“. Eigentlich sollten es doch die Eltern sein, die für ihre Kinder sorgen und nicht umgekehrt.

„Kein Arbeitspla­tz muss wegen Corona verloren gehen“– dies sagte Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier zu Beginn der Pandemie im März, schränkte jedoch gleichzeit­ig ein: Zumindest sollten keine Jobs abgebaut werden müssen in profitable­n Betrieben. Rust arbeitete in einem solchen Betrieb, in der Regel von 10 bis 14 Uhr und dann wieder von 17.30 Uhr bis sich abends, oder auch erst nachts, die Pforten des Lokals schlossen, die letzten Gäste gegangen waren.

Sein ganzes Leben lang hat Rust in der Gastronomi­e seine Brötchen verdient. Es sei seine Leidenscha­ft, sagt er, in der Küche zu arbeiten. Über Jahrzehnte habe er sich Kenntnisse und Fähigkeite­n erworben, auf die die Köche nicht verzichten wollten. Im März teilte ihm sein Chef dann aber mit: dass er von nun an auf ihn werde verzichten müssen. Keine Gäste, keine Arbeit mehr.

Monika Betz-Albegiani gehört zum Team der Sozial- und Arbeitslos­en-Beratung der Caritas in Ulm. Sie und ihre Kollegen haben es seit Kurzem vor allem und vermehrt mit Menschen wie Michael Rust zu tun. Menschen, die eher im Niedrigloh­nsektor

beschäftig­t sind, in der Gastronomi­e, der Hotellerie, dem Einzelhand­el. Und die wegen der Auswirkung­en der Krise plötzlich keine Jobs mehr haben oder in Kurzarbeit weiterbesc­häftigt sind. Betz-Albegiani sagt aber auch: „Es trifft genauso Menschen aus dem Mittelstan­d.“

Die Aufgabe der Sozialbera­tung ist es nicht, ihren Klienten so schnell wie möglich wieder neue Arbeitsplä­tze zu verschaffe­n. Dafür ist sie auch gar nicht zuständig, das ist Aufgabe der Agentur für Arbeit. Stattdesse­n will die Sozialbera­tung dafür sorgen, dass die Betroffene­n die Krisenzeit wirtschaft­lich gut überstehen. Sie werden beraten, welche Sozialleis­tungen

ihnen zustehen, und bei der Antragstel­lung unterstütz­t.

Ohne die Hilfe der Caritas wären viele damit schlicht überforder­t. Auch Menschen, die der deutschen Sprache mächtig sind. Die Bescheide der Ämter, die im Fall von Michael Rust mittlerwei­le eine ganze Mappe füllen, seien gelinde gesagt, so formuliert es Monika Betz-Albegiani, „erklärungs­bedürftig“. Sie könne es gut verstehen, wenn Betroffene da nicht mehr „durchblick­en“.

Monika Betz-Albegiani hat Michael Rust in einen Besprechun­gsraum im Erdgeschos­s des Ulmer BischofSpr­oll-Hauses gebeten, die Zentrale der Caritas für Ulm und den Alb-Donau-Kreis. Sie haben Platz genommen an einem großen Tisch, wobei es genau genommen mehrere Tische sind, die zu einer großen grauen Fläche zusammenge­schoben wurden. Das schafft Abstand zwischen den Gesprächsp­artnern. Draußen donnert der Verkehr der Olgastraße vorbei, deshalb sind die Fenster geschlosse­n. Es ist warm und der Mundschutz, den beide tragen, macht es nicht besser. Dazu trägt Michael Rust eine Wollweste. Immer wieder muss er schlucken, sein Mund ist trocken. Er will nicht weniger zurück als seine Würde.

Monika Betz-Albegiani betreut knapp 200 Menschen pro Jahr, ausgestatt­et ist sie mit einer 65-ProzentSte­lle. Was sie für Michael Rust erreichen möchte: dass sein Antrag auf Arbeitslos­engeld I und „ergänzende

Leistungen zum Lebensunte­rhalt“genehmigt werden. Es ist vertrackt. Da einer seiner beiden Söhne mit ihm und seiner kranken Ehefrau im Haushalt lebt, zählt auch die Ausbildung­svergütung des Sohnes zum Einkommen. Nach Abzug der Freibeträg­e muss zunächst ermittelt werden, wie viel Geld der „Bedarfsgem­einschaft“überhaupt zusteht. Viel blieb auch bisher nicht übrig, nachdem Miete, Telefon und Strom bezahlt waren. Bis zu seiner Kündigung konnte Rust seinen und den Lebensunte­rhalt für seine Frau aber ohne staatliche Unterstütz­ung bestreiten. Zwar bekam er zeitweilig auch Kurzarbeit­ergeld, doch nach dem Verlust des Arbeitspla­tzes fehlen ihm einige Hundert Euro, um seine – nicht gerade üppigen Ausgaben – bezahlen zu können.

Zuletzt wurde dem 56-Jährigen das Girokonto gesperrt. Auch darum will sich Monika Betz-Albegiani kümmern. Rust wirkt erschöpft. Ob er je wieder auf eigenen Beinen wird stehen können? Zweimal pro Woche putzt er noch immer zusätzlich in einem Geschäft. Viel kommt dabei aber nicht zusammen.

Auch schon vor Corona konnte sich Monika Betz-Albegiani nicht über zu wenig Arbeit beklagen. Zu ihr kamen und kommen noch immer Menschen, die es aus der Bahn geworfen hat; sei es durch Krankheit, einen Unfall oder eine Trennung. Die kostenlose Beratung soll ihnen helfen, wenigstens wieder einigermaß­en auf die Beine zu kommen.

Monika Betz-Albegiani zeigt auf, an wen sich die Ratsuchend­en wenden müssen, um Unterstütz­ung zu bekommen. Und wenn es sein muss, begleitet sie sie auch zu Terminen. Viele wüssten einfach nicht, dass ihnen in schlechten Zeiten Kinderzusc­hlag und Wohngeld oder ergänzende Sozialleis­tungen zustehen. Doch wer befasst sich mit solchen Fragen schon in guten Zeiten? Wohl die wenigsten. Hilfe von außen sei nötig. Angst und Sorgen machten das Denken eng, hat Betz-Albegiani festgestel­lt.

Für Michael Rust schätzt sie die Chancen trotz allem als „sehr gut“ein, nach der Krise wieder in einer Küche arbeiten zu können. Wenn nicht an seinem bisherigen Arbeitspla­tz, dann in einem anderen Lokal. .

Für Tausende weitere Ratsuchend­e wünscht sich Pfarrer Oliver Merkelbach, Direktor des Diözesanca­ritasverba­ndes, ebensolche Beratung. Und er bittet um Hilfe: „Um auf die erhöhte Nachfrage reagieren und diesen Menschen angemessen helfen zu können, braucht die Caritas dringend Unterstütz­ung.“In den Beratungss­tellen soll nach Merkelbach­s Worten im Einzelfall und mit enger Begleitung Soforthilf­e als Überbrücku­ngsgeld gewährt werden können – zum Beispiel bis staatliche Hilfen greifen oder man sich mit dem Vermieter einigen konnte. Zum anderen will die Caritas das Beratungsa­ngebot vorübergeh­end ausweiten. Sein Appell: „Lassen Sie uns miteinande­r füreinande­r sorgen, damit aus der Krise für niemanden eine bedrohlich­e Lebenskris­e wird.“

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FOTO: MAGO IMAGES

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