Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Autobauer Renault will 15 000 Jobs streichen
BOULOGNE-BILLANCOURT/HANNOVER (dpa) - Mit dem Abbau von rund 15 000 Stellen und milliardenschweren Kostensenkungen will der französische Autobauer Renault aus der Krise kommen. Ein kleineres Werk für mechanische Teile in der Nähe von Paris soll bis 2022 dichtgemacht werden, kündigte RenaultPräsident Jean-Dominique Senard am Freitag in Boulogne-Billancourt bei Paris an. Weitere Schließungen seien nicht geplant, auch nicht im Ausland: „Das ist kein Plan für Fabrikschließungen, das ist ein Sparplan.“Renault hat bisher allein in Frankreich 14 Standorte.
Bei dem sozialverträglichen Abbau von Stellen entfallen rund 4600 auf Frankreich, in den übrigen Ländern sollen es über 10 000 sein. Das über drei Jahre laufende Sparprogramm hat einen Umfang von über zwei Milliarden Euro. „Wir müssen profitabler werden“, sagte Interimschefin Clotilde Delbos. Ungeachtet der Probleme werde der Hersteller aber in der Formel 1 bleiben.
FRIEDRICHSHAFEN - Ein Lastwagen beladen mit Stahlteilen fährt aus Italien kommend auf das Gelände eines württembergischen Maschinenbauers. Der Fahrer steigt aus, drückt einige Schalter, nimmt sein iPad und betritt das Abfertigungsterminal, um sich und die Fracht anzumelden. Seine Zugmaschine fährt zur selben Zeit autonom an die Verladerampe, rangiert den Anhänger in Position und parkt sich am Rande des Gewimmels auf dem Betriebshof.
Genau solche Szenarien hatte ZFVorstandschef Wolf-Henning Scheider im Sinn, als er vor etwas mehr als einem Jahr die Übernahme des belgisch-amerikanischen Bremsenbauers Wabco auf den Weg brachte. „Wir sind überzeugt, dass sich das autonome Fahren zuerst bei den Nutzfahrzeugen – und zwar auf Fabrikhöfen, auf Flughäfen, an Logistikstandorten oder in der Landwirtschaft – durchsetzt“, hatte Scheider im Frühjahr 2019 gesagt. Das Ziel: Der Autozulieferer ZF aus Friedrichshafen am Bodensee soll zum Systemanbieter im Lastwagenbereich werden – also die komplette Technik für autonom fahrende Lastzüge anbieten können. Fahrwerk, Lenkung, Getriebe, Sensorik und Fahrzeugcomputer hatte ZF bereits im Katalog, mit dem Kauf von Wabco sollten auch pneumatische Bremsen ins Programm kommen.
Nun ist Wolf-Henning Scheider am Ziel: ZF hat den Kauf des Bremsenherstellers am Freitag erfolgreich abgeschlossen, die New Yorker Börse nahm die Aktien des Unternehmens daraufhin mit sofortiger Wirkung aus dem Handel. Der Zulieferer zahlt nach Informationen der „Schwäbischen Zeitung“aus Unternehmenskreisen rund 6,2 Milliarden Euro für Wabco. „Die Zusammenführung dieser beiden erfolgreichen Unternehmen macht unsere Nutzfahrzeug-Systemtechnik noch innovativer und leistungsfähiger. Dank unserer sich perfekt ergänzenden Produkte und Kompetenzen sind wir in der Lage, weltweit einzigartige Systemlösungen und Dienstleistungen für Hersteller und Flotten anzubieten“, sagte Scheider nach dem Abschluss des Deals laut Mitteilung. „Diese Akquisition markiert einen wichtigen Meilenstein in der Geschichte unseres Unternehmens.“
Wabco wurde 1869 als Westinghouse Air Brake Company von George Westinghouse gegründet, dem Erfinder der Druckluftbremse. Seit 2007 ist das Unternehmen an der New Yorker Börse notiert. ZF erzielt zwar einen mehr als zehnmal höheren Umsatz als Wabco, der im Jahr 2019 bei umgerechnet 3,1 Milliarden Euro lag (ZF: 36,5 Milliarden Euro), doch sind die Amerikaner mit einer Umsatzrendite von 9,9 Prozent deutlich profitabler als das Unternehmen vom Bodensee (ZF: 4,1 Prozent).
Die industrielle Logik hinter dem Zukauf steht für Stefan Reindl, Direktor des Instituts für Automobilwirtschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen, außer Frage. „Die Integration der Wabco-Bremsentechnik stellt eine sinnvolle Ergänzung in diesem Bereich dar und wird die Position als global agierender Systemlieferant für die Automobilwirtschaft stärken“, sagt Reindl der „Schwäbischen Zeitung“. Das „Know-how von Wabco“werde für autonome Fahrsysteme und die Nach-Verbrennerzeit von Bedeutung sein. Neben den Bremsen verweist Reindl, der wie ZF davon ausgeht, dass das autonome Fahren zuerst bei Lastwagen und dann bei Autos eingeführt wird, auf die Expertise von Wabco bei elektronischen Bauteilen und Sensoren.
Ein „Sonderangebot“ist Wabco in den Augen Reindls zwar nicht, allerdings „wäre der Aufbau eines eigenen Bereichs für die Bremsentechnik mit hohen Investitionen und unternehmerischen Risiken verbunden gewesen. „Teuer, aber gut“, so beurteilt Jürgen Pieper, Analyst des privaten Bankhauses Metzler, den WabcoKauf. „Strategisch löst sich ZF durch seine großen Übernahmen immer mehr von seinen Wurzel, was in diesem Fall sehr positiv zu sehen ist“, sagt Pieper auch mit Blick auf TRW, den amerikanischen Hersteller von Fahrerassistenzsystemen und Sensoren, den ZF im Jahr 2015 für rund 9,6 Milliarden Euro übernommen hat.
„Im Stammbereich Getriebe und Antriebstechnik ist die langfristige Zukunft negativ zu beurteilen, die rechtzeitige Umsteuerung deshalb absolut gutzuheißen.“
Diese Umsteuerung hat ZF-Chef Wolf-Henning Scheider im Kopf gehabt, was er nicht im Sinn hatte und wohl auch nicht haben konnte, war die Tatsache, wie grundlegend sich die Situation seines Unternehmens seit dem Tag verändert hat, an dem er offiziell das Interesse an Wabco anmeldete. Die weltweite Corona-Pandemie und der damit einhergehende Wirtschaftseinbruch haben die Automobilindustrie zum Erliegen gebracht – und ZF vor so große Probleme gestellt, dass die zuvor konservativ geplante Finanzierung des Kaufs urplötzlich unter Druck gerät. In einem dramatischen Brief hat ZF-Chef Scheider seine Belegschaft auf harte Einschnitte eingestellt und angekündigt, dass ZF bis 2025 bis zu 15 000 Arbeitsplätze streichen wird – die Hälfte davon in Deutschland.
„Als Folge des Nachfragestopps auf Kundenseite wird unser Unternehmen
2020 hohe finanzielle Verluste machen“, heißt es in dem Brief, der der „Schwäbischen Zeitung“vorliegt und der von Scheider und seiner für das Personal zuständigen Vorstandskollegin Sabine Jaskula unterzeichnet ist. „Diese Verluste bedrohen unsere finanzielle Unabhängigkeit. Wenn wir bestimmte Kennzahlen verfehlen, könnten externe Kreditgeber Einfluss auf unsere Geschäftsentscheidungen fordern.“Aus diesen Worten spricht offenbar die Sorge, dass Banken und Gläubiger Kredite kündigen könnten, die ZF für die Zukäufe von TRW und Wabco in den vergangenen Jahren aufgenommen hat. Oft sind solche Darlehen an bestimmte Kennzahlen geknüpft, die das Unternehmen erreichen muss.
ZF wollte sich auf Anfrage nicht weiter äußern – weder dazu, ob die Finanzierung des Deals langfristig gesichert ist oder ob das Unternehmen auch überlegt hat, vom Kauf zurückzutreten, noch zu den Planungen für das angekündige Sparprogramm.
ZF muss sich auf „sehr herausfordernde Jahre“einstellen, erklärt Gerhard
Wolf, Auto-Analyst der Landesbank Baden-Württemberg. „Die aktuellen Herausforderungen sind immens: ein coronabedingter globaler Einbruch, der schlimmer ist als in der Finanzkrise 2009. China erholt sich recht gut, aber die Unsicherheit, wie sich Europa und die USA entwickeln werden, ist groß. Dazu kommt der Strukturwandel in der Autoindustrie“, sagt Wolf im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Finanziert hat ZF den Wabco-Kauf zum einen mit Schuldscheindarlehen in Höhe von 2,1 Milliarden Euro und zum anderen mit Euro-Anleihen im Gesamtvolumen von 2,7 Milliarden Euro. „Das Rating ist bereits unter Druck mit einem negativen Ausblick. Dadurch kommen auch die Bonds am Kapitalmarkt unter Preisdruck“, sagt Wolf. „Die Finanzierung ist aber langfristig gesichert, dazu hat sich ZF weitere Kreditlinien besorgt, das gibt Rückhalt, Liquiditätssicherung ist derzeit das A und O.“Insgesamt bewertet Wolf den Wabco-Preis mit Blick auf Profitabilität und die Verschuldung als angemessen und die Finanzierung als günstig. „Da hat ZF alles richtig gemacht“, sagt der Autoexperte der Landesbank.
Auch der Betriebsrat befürwortet das Geschäft. „Wabco ist sehr profitabel, gut geführt und kein Sanierungsfall. Es wird perspektivisch mehr transportiert werden. Damit wird sich die Übernahme selbst tragen“, erklärt Gesamtbetriebsratschef Achim Dietrich. „Weil wir künftig das komplette System beherrschen, haben wir die Chance weitere Kunden zu gewinnen.“Zur fatalen Lage des Unternehmens hat sich die Arbeitnehmervertretung noch nicht abschließend positioniert, erfahren von den Abbauplänen hatte der Betriebsrat erst in dieser Woche. „Wir müssen das jetzt erst mal intern bewerten und werden dann reagieren“, sagt Dietrich. „Klar ist: Wir kämpfen um jeden einzelnen Arbeitsplatz.“
Für ZF geht es um viel in den nächsten Monaten: Sie entscheiden darüber, wie hart die Einschnitte für die Mitarbeiter werden und ob die Rückzahlung der aufgenommenen Kredite doch noch wackelt. Dabei hatte ZF genau das immer vermeiden wollen: Denn vor drei Jahren hatte Scheiders Vorgänger, Stefan Sommer, Wabco schon einmal übernehmen wollen. Doch die Zeppelin-Stiftung und die dahinter stehende Stadt Friedrichshafen als Eigentümerin hatten ihr Veto eingelegt. Der Grund: Der TRW-Kauf lag damals gerade einmal zwei Jahre zurück und man wollte ZF nicht gefährden, indem man zu früh eine weitere große Übernahme angeht und dem Unternehmen Schulden aufbürdet, die es möglicherweise nicht zurückzahlen kann. In der Folge verlor Sommer seinen Job.
Klar ist aber eines: In der Bewertung des Geschäfts wären sich Scheider und Sommer einig gewesen. ZF passt zu Wabco, Wabco passt zu ZF. Denn irgendwann werden die Lastwagen auf den Betriebshöfen autonom an die Verladerampen fahren.