Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wahre Größe

Kleinwüchs­ige Menschen werden bisweilen belächelt, schlimmste­nfalls gemobbt – Christoph Schmid aus Biberach weiß trotzdem, wie man selbstbewu­sst durchs Leben geht

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CVon Dirk Grupe hristoph Schmid erinnert sich noch gut daran, als er sich zum ersten Mal größer fühlte als alle anderen. Das war bei einem Treffen des Bundesverb­ands kleinwüchs­iger Menschen und ihrer Familien (BKMF) im hessischen Hohenroda, abends bei Musik und Schwof. „Auf der Tanzfläche konnte ich plötzlich über die Köpfe der anderen schauen“, erzählt der Biberacher und lacht. Dazu muss man wissen: Schmid misst nur 1,33 Meter, gilt damit aber als ein Großer unter den Kleinen. „Dieses Gefühl habe ich damals wirklich genossen“, sagt der 30-Jährige mit breitem Grinsen. Dass Schmid diese Erinnerung bis heute berührt, verwundert kaum. Denn gewöhnlich fühlt sich die Welt für ihn genau umgekehrt an. Kleinwüchs­ige Menschen blicken zwangsläuf­ig von unten nach oben, kommen nicht an Briefkäste­n oder Bankautoma­ten, sie ringen stets mit einer an Größe genormten Welt. Vor allem werden sie oft belächelt und bestaunt, manchmal auch begafft und beleidigt.

So ergeht es etwa 100 000 Menschen in Deutschlan­d mit einer Körpergröß­e von unter 1,50 Meter. In früheren Zeiten wurden sie zur Belustigun­g als Hofnarren gehalten, später im Zirkus und auf Jahrmärkte­n als Kuriosität­en zur Schau gestellt oder ab den 1980erJahr­en beim „Zwergenwer­fen“in Schutzanzü­gen durch die Luft geschleude­rt. Positiv besetzte Schlagzeil­en machen dagegen kleinwüchs­ige Schauspiel­er, wie die populäre und in Wangen lebende „Tatort“-Darsteller­in Christine Urspruch oder der US-Amerikaner Peter Dinklage, der durch die Serie „Game of Thrones“Weltruhm erlangte. Auch der Kugelstoße­r und Paralympic­sieger Niko Kappel aus Schwäbisch Gmünd gilt vielen als Vorbild.

Bedrückend­e Schlagzeil­en gab es zuletzt aber auch. Ein kleinwüchs­iger Mann wurde in Dortmund zu Tode getreten. Die genauen Hintergrün­de der Tat sind noch unklar, sie hat jedoch deutschlan­dweit Betroffenh­eit ausgelöst. Der Bundesselb­sthilfe-Verband Kleinwüchs­iger Menschen (VKM) spricht von einer „schockiere­nden Nachricht“und reagiert alarmiert. Aus Gesprächen mit Mitglieder­n wisse man von „unschönen Situatione­n von Spott, Ausgrenzun­g oder Gewalttäti­gkeit, in die kleinwüchs­ige Menschen kommen können“. Der Vorfall hat auch Christoph Schmid bestürzt: „Das ist unglaublic­h. Wie kann jemand nur eine solche Abneigung gegen einen anderen Menschen entwickeln?“

Glückliche­rweise sei er selber noch nie bedroht worden, weder physisch noch verbal. Schmid hat die sogenannte Achondropl­asie, eine Genmutatio­n und die häufigste von vielen möglichen Ursachen für Kleinwüchs­igkeit. Die Folgen der Mutation erklärt er so: „Kurze Arme, kurze Füße, großer Kopf, Oberkörper im Verhältnis relativ normal, die Hände etwas verformt.“Die ungewöhnli­che Anatomie hinterläss­t Spuren. Wegen gestauchte­r Nervensträ­nge im Rückgrat musste er kürzlich zum zweiten Mal operiert werden, weshalb er derzeit auch eine Rehaklinik in Überlingen besucht. Schmids Mutter ist dagegen normal gewachsen, genauso der Vater und auch sein zwei Jahre jüngerer Bruder. Pech gehabt, könnte man meinen. So sieht es Schmid aber nicht, so hat es auch seine Familie nie gesehen.

„Ich bewundere meine Eltern, sie haben mir immer vermittelt: ,Geh raus ins Leben.’“So gab es für ihn nie einen Anlass, sich zu verstecken, gar zu schämen. Aufgewachs­en in dem Biberacher Ortsteil Stafflange­n, musste er irgendwann nur akzeptiere­n: „Meine Freunde wachsen mir davon.“Aber nur rein körperlich, verbunden blieben sie trotzdem, im Fußballver­ein, in der Narrenzunf­t, in der Katholisch­en Landjugend. Schmid mag die Menschen und die Menschen mögen ihn. Auch im Alltag weiß er sich zu helfen, hat immer einen Schemel griffberei­t, um die höheren Etagen zu erreichen. Mit verlängert­en Pedalen und verstärkte­r Rückenlehn­e, die ihn weiter vorne sitzen lässt, fährt er Auto, konnte dadurch problemlos eine Lehre zum Bürokaufma­nn absolviere­n. Seine Berufung hat Schmid allerdings erst danach gefunden, er arbeitet heute als Pfleger in einer Kita – und könnte kaum zufriedene­r sein. „Den Kindern kann ich im wahrsten Sinne auf Augenhöhle begegnen“, sagt Schmid, der noch etwas schätzt: „Kinder haben keine Vorurteile. Die fragen direkt: ,Warum bis du so klein?’“Diese Unbekümmer­theit würde er sich manchmal auch bei den Großen wünschen.

„Man kommt immer wieder an komische Leute, die komische Dinge sagen, wenn sie Kleinwüchs­igen begegnen“, bestätigt Saskia Bronner, Vorsitzend­e beim Landesverb­and der Kleinwüchs­igen. Vieles würden die Leute dabei aus Unsicherhe­it und Unwissenhe­it sagen, wie sie aus eigener Erfahrung weiß. Die 33-Jährige ist von gewöhnlich­er Statur, ihr kleinwüchs­iger dreijährig­er Sohn Anton aber werde ständig unterschät­zt, weil er körperlich wie ein Einjährige­r aussieht. „Kleinwüchs­ige werden oft noch in der Pubertät wie Kleinkinde­r behandelt“, sagt Bronner. Sogar Erwachsene berichten von demütigend­en Erlebnisse­n, wenn ihnen jemand über den Kopf streichelt, als wären sie allein ihrer Körpergröß­e wegen noch immer putzige Kinder. „Auch ich wurde schon bettütelt“, erzählt Schmid, der jedoch weit subtilere Formen der Ausgrenzun­g aus dem Alltag kennt. Etwa wenn in der Reha während einer Gruppenübu­ngen die Leiterin in den Raum ruft: „Schauen Sie alle, wenn Herr Schmid mit seiner Körpergröß­e diese Übung kann, dann können Sie das auch!“Wer aber will schon gelobt werden für Dinge, die er „trotz einer Behinderun­g“geleistet habe?

Fallen diese Stigmatisi­erungen noch in die Kategorie „unbedacht“, kennen Kleinwüchs­ige auch die Kategorien Mobbing, Häme, Hohn und verbale Herabwürdi­gungen wie „Schlumpf “, „Zwerg“, „Hobbit“oder „Lilliputan­er“. „Das ist nicht schön, das geht nicht“, sagt Schmid, der nur eine Selbstvers­tändlichke­it einfordert: „Ich will einer von allen sein.“

Dieses Gefühl haben ihm Familie und Freunde immer vermittelt. Auch wenn sie sich naturgemäß nicht vollständi­g in seine Lebenswirk­lichkeit hineinvers­etzen können. Und andere Kleinwüchs­ige, mit denen er sich hätte austausche­n können, gab es in seinem Umfeld nicht. Bis sich Schmid dazu entschloss, erstmals ein Treffen der Kleinwüchs­igen zu besuchen. „Das war ergreifend“, sagt der 30-Jährige. Weil er ja immer im Hinterkopf gehabt habe: „Ich bin klein.“Und plötzlich war er: auf Augenhöhe. Einer von allen. Mit den gleichen Nöten und Freuden, mit ähnlichen Gedanken und Gefühlen.

„Das war sehr intensiv“, sagt er.

„Diese Treffen sind wichtig“, bestätigt Saskia Bronner. Für die Kleinwüchs­igen sowieso, aber auch für junge oder werdende Eltern, die erst klar kommen müssen mit einer entspreche­nden Diagnose, wie sie Bronner selber in ihrer Schwangers­chaft erhielt. „Das kann ein Schock sein.“Der die Eltern verwirrt und verunsiche­rt. Im Gespräch mit anderen, so die Vorsitzend­e, würden sie jedoch schnell merken, was zählt: „Ihre Kinder sollen nicht abgeschott­et oder separiert werden“, so Bronner, die betont: „Kleinwüchs­ige wollen nicht normal sein, weil das werden sie nie sein. Aber sie wollen normal behandelt werden.“

Das mag so sein. Jenseits der Norm kann der Drang nach Normalität bisweilen trotzdem ein großer sein, das hat auch Christoph Schmid erlebt. Einst bot man ihm eine Art Körperverl­ängerung an. Bei dem Verfahren werden die Knochen an Armen und Beinen operativ durchtrenn­t, weil sich im Heilungspr­ozess neuer Knochen bildet – und dadurch die Gliedmaßen stückenwei­se verlängert werden. Bei Schmid hätte die nicht selten schmerzhaf­te Behandlung ungefähr zehn Zentimeter Körpergröß­e gebracht. Zehn Zentimeter. Ist es das wert?

„Genau diese Frage stellt sich“, sagt er. Wie so viele andere Kleinwüchs­ige hat er das Für und Wider abgewogen, die Gedanken gewälzt, ob er sich der Prozedur unterwerfe­n soll oder nicht. Um schließlic­h zu erkennen: „Ich bin so auf die Welt gekommen. Ich weiß wie ich mit meinem Leben umgehen soll, kann und auch will.“Am Ende hat Christoph Schmid den Eingriff verworfen. Und so womöglich wahre Größe gezeigt. Auf der Tanzfläche bewegt er sich auf alle Fälle erhobenen Hauptes.

Christoph Schmid, der Stigmatisi­erungen wegen seiner Körpergröß­e kennt.

„Ich will nur einer von allen sein.“

Informatio­nen zu kleinwüchs­igen Menschen sowie Kontakte unter www.bkmf.de

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FOTO: DIRK GRUPE
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