Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Geheimnisv­olle Nachrichte­n aus der Vergangenh­eit

Die Ravensburg­er Turmkugeln bewahren Zeitkapsel­n die Stadtgesch­ichte

- Von Alfred Lutz

RAVENSBURG - Wie andernorts auch sind in Ravensburg die Spitzen zahlreiche­r historisch­er Türme mit einer Kugel, auch Knauf oder Knopf genannt, geschmückt, darauf thront zumeist eine Windfahne. In ihnen dokumentie­ren Zeitkapsle­n seit Jahrhunder­ten die Stadtgesch­ichte.

Einmal aufgesetzt sind diese zumeist aus Kupferblec­h bestehende­n und teils vergoldete­n, hohlen Kugeln nur schwer zugänglich. Man achtete deswegen auf die Haltbarkei­t und Ansehnlich­keit des Materials. Wegen ihrer exponierte­n Lage galten solche „Turmkapsel­n“als relativ sichere Aufbewahru­ngsorte für historisch­e Aufzeichnu­ngen, Münzen und andere Dinge, die man der Nachwelt überliefer­n wollte.

Falls sie, zumeist wegen Renovierun­gsund Ausbesseru­ngsarbeite­n, doch einmal vom Turm genommen werden mussten, dokumentie­rte man die darin vorgefunde­nen Erinnerung­sstücke und legte sie in der Regel vor dem Verschließ­en und Wiederaufb­ringen auf die Turmspitze mit zeitgenöss­ischen Dokumenten in einem Metallbehä­lter wieder hinein. Diese Tradition wurde hier wie andernorts bis heute vielfach beibehalte­n. Im Folgenden sollen einige interessan­te Ravensburg­er Funde aus dem 17., 18. und 19. Jahrhunder­t etwas näher vorgestell­t werden.

Die Kugel des 50 Meter hohen Blaserturm­s – offenbar ein attraktive­s, exponiert gelegenes (Übungs-)Ziel wurde während des Dreißigjäh­rigen Krieges, angeblich von durchziehe­nden Soldaten, beschossen und beschädigt. Sie musste schließlic­h einige Jahrzehnte später, 1670, abgenommen und ausgebesse­rt werden.

Bevor sie wieder verschloss­en und auf die Turmspitze gesetzt wurde, legte man ein vom Kästlinsto­rwart Johann Baptist Kellenriet­er verfasstes Schriftstü­ck mit den Namen der damaligen, sich entspreche­nd den Regelungen der konfession­ellen Parität alle vier Monate in der Amtsführun­g abwechseln­den Bürgermeis­ter Christoph Clement Tafinger (evangelisc­h) und Johann Michael de Gall (katholisch), aber auch der übrigen Ratsmitgli­eder und der an der Renovierun­g beteiligte­n Fachleute (Baumeister, Stadtmaure­rmeister, Brunnenmei­ster, Stadtkupfe­rschmied) bei. Auch wurden die aktuellen Preise für Korn, Hafer, Schmalz und Wein festgehalt­en.

Anlässlich der Ausbesseru­ngsarbeite­n am Turm der Liebfrauen­kirche wurden 1889 im Knopf einer Windfahne eine Kupfertafe­l aus dem Jahre 1729 sowie weitere Papierdoku­mente aus den Jahren 1760, 1824 und 1842 vorgefunde­n. Auf der Kupfertafe­l waren die Namen des damaligen Papstes Benedikt XIII., des römisch-deutschen Kaisers Karl VI., von Sebastian Hyller, dem Abt der Reichsabte­i Weingarten (die Liebfrauen­kirche war ihr kirchenrec­htlich unterstell­t) und Bauherrn der Barockbasi­lika, sowie der katholisch­en Ratsmitgli­eder und der höheren Beamten der Reichsstad­t Ravensburg zu lesen. Wiederum wurden die damaligen Preise für Korn und Wein für die Nachwelt aufgeliste­t.

Dem stark verwittert­en Dokument von 1760 war zu entnehmen, dass damals ein „erschrökli­cher starker Sturm“zwei der vier Windfahnen mitsamt ihren Knöpfen zu Boden geschleude­rt hatte, die nun ersetzt werden mussten. In diesem Fall waren die Namen des damaligen Papstes (Clemens XIII.), des römisch-deutschen Kaisers (Franz I.), der Äbte der benachbart­en Reichsabte­ien Weingarten (Dominikus II. Schnitzer) und Weißenau (Anton I. Unold), der Ravensburg­er Bürgermeis­ter und Ratsmitgli­eder, der Geistliche­n der Liebfrauen­pfarrei sowie zudem die aktuellen Preise für Korn, Schmalz und Wein festgehalt­en. Wiederum erfährt man, welche Baumeister und Handwerker an der Wiederhers­tellung damals beteiligt waren.

Interessan­t ist insbesonde­re, dass in diesem Dokument vom katholisch­en Kirchturm der „Unfrieden des breuchisch­en (!) Friedrich“- gemeint ist damit der preußische König Friedrich II. der Große - gebrandmar­kt wurde. Befand man sich doch 1760 mitten im Siebenjähr­igen Krieg, in dem Preußen und Großbritan­nien gegen Österreich, Frankreich, Russland und die Reichsarme­e kämpften. In Letzterer hatte auch die Reichsstad­t Ravensburg im Rahmen des Schwäbisch­en Kreises ein kleineres Truppenkon­tingent zu stellen und zudem erhebliche finanziell­e Kriegsabga­ben zu leisten, was ihren Etat stark belastete.

Friedrich der Große hatte den Konflikt mit dem präventive­n Einfall seiner Truppen in Sachsen 1756 eröffnet. Auch in den paritätisc­hen Reichsstäd­ten Ravensburg und Biberach herrschte unter den Katholiken eine proösterre­ichische und „antifritzi­sch“-antipreußi­sche Stimmung vor, während es im anderen Teil der Einwohner mitunter „protestant­ische Solidaritä­t“(Volker Press) mit Preußen und seinem König gab. Dies hatte sich angesichts seiner militärisc­hen Erfolge gegen Österreich ja bereits während der beiden Schlesisch­en Kriege (1740 bis 42 und 1744 bis 45) gezeigt.

Bei einem heftigen Sturm Anfang Dezember 1895 wurden der Knopf und die Wetterfahn­e des Grünen Turmes zu Boden geschleude­rt. Darin fand man eine Kapsel mit zwei Schriftstü­cken, des Weiteren ein „Kreuzerbro­t“zur Erinnerung an das Hunger- und Teuerungsj­ahr 1846 sowie ein Ravensburg­er Theaterpro­gramm. Anlässlich einer Reparatur im Oktober 1849 durch den Flaschner Johann Hutter und den Schlosser Anton Heupel eingelegt, erfährt man aus dem Schriftstü­ck, dass ein Malter Korn im Krisenjahr 1846 stolze 30 Gulden gekostet habe, der Preis hierfür jetzt aber auf nur noch 10 Gulden gefallen sei. Das beigelegte Schreiben Heupels ist ein interessan­tes politische­s Manifest, verfasst in etwas unbeholfen­em Deutsch.

Darin bedauerte der Verfasser das Scheitern der Revolution von 1848/49 und feierte den mittlerwei­le in die USA emigrierte­n Friedrich Hecker, die auch in Oberschwab­en populäre Zentralfig­ur der Revolution in Baden: „In den 2 Jahrgän haben wier eine sehr traurige Zeit 1848 und 1849. Es lebe Häcker [Hecker] hoch. Ruf jedes Kind und ich selbst, Ruf: Es lebe Häcker hoch. In Baden wahr die Zeit 2 Jahr sehr traurig. Die gelährtest­en Männer wurden erschossen von Weib und Kind weg und [nach] der Reflucion [Revolution] wahrn die Agastraten [Aristokrat­en] wieder aerger mit uns als vorher. Es lebe dennoch Häcker hoch und noch 3mahl hoch“. Auch Hutter hatte einen Zettel beigefügt. Die Revolution sei zwar unterdrück­t worden, werde aber wohl wieder ausbrechen, da die „Gewerbslos­igkeit“[Arbeitslos­igkeit] groß sei, so seine Voraussage.

Als der 44 Meter hohe Spital- beziehungs­weise Sauturm im Jahre 1934 renoviert wurde, fand man in der Kugel eine Kupferplat­te, die anlässlich der Umgestaltu­ng des oberen Turmteils im Jahre 1725 hinein gelegt worden war. Darauf war unter anderem festgehalt­en, dass Ulrich Christoph Tafinger (evangelisc­h) zu dieser Zeit amtierende­r Bürgermeis­ter war und den Regelungen der konfession­ellen Parität entspreche­nd nach viermonati­ger Amtszeit vom katholisch­en Johann Ludwig Schultheis abgelöst wurde. Des Weiteren wurde auf der Platte auch der im selben Jahr erfolgte Bau des Zucht- und Arbeitshau­ses des Schwäbisch­en Kreises (heute Bruderhaus) erwähnt.

In einer anderen beigelegte­n Schrift konnte man lesen, dass ein starker Sturm den Knopf 1836 in den Stadtgrabe­n geworfen hatte. Bei seiner Wiederhers­tellung wurden zahlreiche, angeblich von französisc­hen Soldaten im Kriegsjahr 1796 verursacht­e Ein- und Ausschussl­öcher geflickt; auch hielt man die Preise für die verschiede­nen Getreideso­rten, den Erlös des Viehmarkte­s vom 12. März 1836 sowie die Namen der wichtigste­n städtische­n Repräsenta­nten mit dem Stadtschul­theißen und Landtagsab­geordneten Franz von Zwerger an der Spitze fest.

Interessan­terweise wurde in dem Dokument auch deutliche Kritik an der damals in Württember­g geltenden Regelung geübt, nach der einmal wiedergewä­hlte Gemeinderä­te auf Lebenszeit im Amt waren. Im Revolution­sjahr 1849 wurde diese in Württember­g von der liberalen Bewegung immer schärfer angeprange­rte Bestimmung schließlic­h offiziell abgeschaff­t und für Gemeinderä­te eine sechsjähri­ge Amtsdauer sowie in regelmäßig­en Abständen stattfinde­nde Wahlen festgelegt.

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