Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Geheimnisvolle Nachrichten aus der Vergangenheit
Die Ravensburger Turmkugeln bewahren Zeitkapseln die Stadtgeschichte
RAVENSBURG - Wie andernorts auch sind in Ravensburg die Spitzen zahlreicher historischer Türme mit einer Kugel, auch Knauf oder Knopf genannt, geschmückt, darauf thront zumeist eine Windfahne. In ihnen dokumentieren Zeitkapslen seit Jahrhunderten die Stadtgeschichte.
Einmal aufgesetzt sind diese zumeist aus Kupferblech bestehenden und teils vergoldeten, hohlen Kugeln nur schwer zugänglich. Man achtete deswegen auf die Haltbarkeit und Ansehnlichkeit des Materials. Wegen ihrer exponierten Lage galten solche „Turmkapseln“als relativ sichere Aufbewahrungsorte für historische Aufzeichnungen, Münzen und andere Dinge, die man der Nachwelt überliefern wollte.
Falls sie, zumeist wegen Renovierungsund Ausbesserungsarbeiten, doch einmal vom Turm genommen werden mussten, dokumentierte man die darin vorgefundenen Erinnerungsstücke und legte sie in der Regel vor dem Verschließen und Wiederaufbringen auf die Turmspitze mit zeitgenössischen Dokumenten in einem Metallbehälter wieder hinein. Diese Tradition wurde hier wie andernorts bis heute vielfach beibehalten. Im Folgenden sollen einige interessante Ravensburger Funde aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert etwas näher vorgestellt werden.
Die Kugel des 50 Meter hohen Blaserturms – offenbar ein attraktives, exponiert gelegenes (Übungs-)Ziel wurde während des Dreißigjährigen Krieges, angeblich von durchziehenden Soldaten, beschossen und beschädigt. Sie musste schließlich einige Jahrzehnte später, 1670, abgenommen und ausgebessert werden.
Bevor sie wieder verschlossen und auf die Turmspitze gesetzt wurde, legte man ein vom Kästlinstorwart Johann Baptist Kellenrieter verfasstes Schriftstück mit den Namen der damaligen, sich entsprechend den Regelungen der konfessionellen Parität alle vier Monate in der Amtsführung abwechselnden Bürgermeister Christoph Clement Tafinger (evangelisch) und Johann Michael de Gall (katholisch), aber auch der übrigen Ratsmitglieder und der an der Renovierung beteiligten Fachleute (Baumeister, Stadtmaurermeister, Brunnenmeister, Stadtkupferschmied) bei. Auch wurden die aktuellen Preise für Korn, Hafer, Schmalz und Wein festgehalten.
Anlässlich der Ausbesserungsarbeiten am Turm der Liebfrauenkirche wurden 1889 im Knopf einer Windfahne eine Kupfertafel aus dem Jahre 1729 sowie weitere Papierdokumente aus den Jahren 1760, 1824 und 1842 vorgefunden. Auf der Kupfertafel waren die Namen des damaligen Papstes Benedikt XIII., des römisch-deutschen Kaisers Karl VI., von Sebastian Hyller, dem Abt der Reichsabtei Weingarten (die Liebfrauenkirche war ihr kirchenrechtlich unterstellt) und Bauherrn der Barockbasilika, sowie der katholischen Ratsmitglieder und der höheren Beamten der Reichsstadt Ravensburg zu lesen. Wiederum wurden die damaligen Preise für Korn und Wein für die Nachwelt aufgelistet.
Dem stark verwitterten Dokument von 1760 war zu entnehmen, dass damals ein „erschröklicher starker Sturm“zwei der vier Windfahnen mitsamt ihren Knöpfen zu Boden geschleudert hatte, die nun ersetzt werden mussten. In diesem Fall waren die Namen des damaligen Papstes (Clemens XIII.), des römisch-deutschen Kaisers (Franz I.), der Äbte der benachbarten Reichsabteien Weingarten (Dominikus II. Schnitzer) und Weißenau (Anton I. Unold), der Ravensburger Bürgermeister und Ratsmitglieder, der Geistlichen der Liebfrauenpfarrei sowie zudem die aktuellen Preise für Korn, Schmalz und Wein festgehalten. Wiederum erfährt man, welche Baumeister und Handwerker an der Wiederherstellung damals beteiligt waren.
Interessant ist insbesondere, dass in diesem Dokument vom katholischen Kirchturm der „Unfrieden des breuchischen (!) Friedrich“- gemeint ist damit der preußische König Friedrich II. der Große - gebrandmarkt wurde. Befand man sich doch 1760 mitten im Siebenjährigen Krieg, in dem Preußen und Großbritannien gegen Österreich, Frankreich, Russland und die Reichsarmee kämpften. In Letzterer hatte auch die Reichsstadt Ravensburg im Rahmen des Schwäbischen Kreises ein kleineres Truppenkontingent zu stellen und zudem erhebliche finanzielle Kriegsabgaben zu leisten, was ihren Etat stark belastete.
Friedrich der Große hatte den Konflikt mit dem präventiven Einfall seiner Truppen in Sachsen 1756 eröffnet. Auch in den paritätischen Reichsstädten Ravensburg und Biberach herrschte unter den Katholiken eine proösterreichische und „antifritzisch“-antipreußische Stimmung vor, während es im anderen Teil der Einwohner mitunter „protestantische Solidarität“(Volker Press) mit Preußen und seinem König gab. Dies hatte sich angesichts seiner militärischen Erfolge gegen Österreich ja bereits während der beiden Schlesischen Kriege (1740 bis 42 und 1744 bis 45) gezeigt.
Bei einem heftigen Sturm Anfang Dezember 1895 wurden der Knopf und die Wetterfahne des Grünen Turmes zu Boden geschleudert. Darin fand man eine Kapsel mit zwei Schriftstücken, des Weiteren ein „Kreuzerbrot“zur Erinnerung an das Hunger- und Teuerungsjahr 1846 sowie ein Ravensburger Theaterprogramm. Anlässlich einer Reparatur im Oktober 1849 durch den Flaschner Johann Hutter und den Schlosser Anton Heupel eingelegt, erfährt man aus dem Schriftstück, dass ein Malter Korn im Krisenjahr 1846 stolze 30 Gulden gekostet habe, der Preis hierfür jetzt aber auf nur noch 10 Gulden gefallen sei. Das beigelegte Schreiben Heupels ist ein interessantes politisches Manifest, verfasst in etwas unbeholfenem Deutsch.
Darin bedauerte der Verfasser das Scheitern der Revolution von 1848/49 und feierte den mittlerweile in die USA emigrierten Friedrich Hecker, die auch in Oberschwaben populäre Zentralfigur der Revolution in Baden: „In den 2 Jahrgän haben wier eine sehr traurige Zeit 1848 und 1849. Es lebe Häcker [Hecker] hoch. Ruf jedes Kind und ich selbst, Ruf: Es lebe Häcker hoch. In Baden wahr die Zeit 2 Jahr sehr traurig. Die gelährtesten Männer wurden erschossen von Weib und Kind weg und [nach] der Reflucion [Revolution] wahrn die Agastraten [Aristokraten] wieder aerger mit uns als vorher. Es lebe dennoch Häcker hoch und noch 3mahl hoch“. Auch Hutter hatte einen Zettel beigefügt. Die Revolution sei zwar unterdrückt worden, werde aber wohl wieder ausbrechen, da die „Gewerbslosigkeit“[Arbeitslosigkeit] groß sei, so seine Voraussage.
Als der 44 Meter hohe Spital- beziehungsweise Sauturm im Jahre 1934 renoviert wurde, fand man in der Kugel eine Kupferplatte, die anlässlich der Umgestaltung des oberen Turmteils im Jahre 1725 hinein gelegt worden war. Darauf war unter anderem festgehalten, dass Ulrich Christoph Tafinger (evangelisch) zu dieser Zeit amtierender Bürgermeister war und den Regelungen der konfessionellen Parität entsprechend nach viermonatiger Amtszeit vom katholischen Johann Ludwig Schultheis abgelöst wurde. Des Weiteren wurde auf der Platte auch der im selben Jahr erfolgte Bau des Zucht- und Arbeitshauses des Schwäbischen Kreises (heute Bruderhaus) erwähnt.
In einer anderen beigelegten Schrift konnte man lesen, dass ein starker Sturm den Knopf 1836 in den Stadtgraben geworfen hatte. Bei seiner Wiederherstellung wurden zahlreiche, angeblich von französischen Soldaten im Kriegsjahr 1796 verursachte Ein- und Ausschusslöcher geflickt; auch hielt man die Preise für die verschiedenen Getreidesorten, den Erlös des Viehmarktes vom 12. März 1836 sowie die Namen der wichtigsten städtischen Repräsentanten mit dem Stadtschultheißen und Landtagsabgeordneten Franz von Zwerger an der Spitze fest.
Interessanterweise wurde in dem Dokument auch deutliche Kritik an der damals in Württemberg geltenden Regelung geübt, nach der einmal wiedergewählte Gemeinderäte auf Lebenszeit im Amt waren. Im Revolutionsjahr 1849 wurde diese in Württemberg von der liberalen Bewegung immer schärfer angeprangerte Bestimmung schließlich offiziell abgeschafft und für Gemeinderäte eine sechsjährige Amtsdauer sowie in regelmäßigen Abständen stattfindende Wahlen festgelegt.