Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Berufsethikerin
2017/18 starben in Deutschland etwa 25 000 Menschen an der Grippe. Pro Jahr sterben etwa 30 000 Männer an Lungenkrebs. Hohe Todeszahlen aus diesen Gründen bringen unsere Gesellschaft nicht aus der Ruhe. Warum ist das bei Corona anders? Sollte die Zahl der Corona-Kranken auf den Intensivstationen und damit die Zahl der schweren Fälle rapide zunehmen, hat das möglicherweise dramatische Folgen für das gesamte Gesundheitssystem. Dann können auch viele Patienten, die an anderen Krankheiten leiden, nicht mehr gut versorgt werden. Von diesen würden ebenfalls viele sterben – als Folge von Corona. Noch mal: Nicht die absolute Zahl ist der Punkt, sondern die Angst, mit Schwerkranken insgesamt nicht mehr human umgehen zu können.
Aber wir wissen nicht, ob es wirklich so kommt.
Wir können nicht einschätzen, wie es weitergeht. Hoffentlich bleiben die Zahlen im beherrschbaren Bereich. Aber die Gefahr angesichts des exponentiellen Wachstums ist real, und sie macht uns Angst. Politik und Gesellschaft fürchten sich vor dem Kontrollverlust. Das liegt auch daran, dass wir uns mit Corona immer noch zu wenig auskennen.
Starren wir zu sehr auf das mögliche exponentielle Wachstum? Die Politik handelt nach wie vor unter der Bedingung großer Unsicherheit. Man weiß nicht genau, wo und wie sich das Virus ausbreitet und mit welchen Maßnahmen genau das effektiv verhindert werden kann. Deshalb ist auch unklar, wie welche Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens wirken, und wann ihre Effekte eintreten. Wir müssen dringend mehr forschen, um gezieltere Schutzmaßnahmen entwickeln zu können.
Geht die Gesellschaft mit den anderen Krankheiten, die viel mehr Opfer fordern als Corona bisher, entspannter um, weil man deren Risiko besser einschätzen kann?
Krebs oder Herzinfarkt zum Beispiel sind nicht ansteckend. Eine exponentielle Verbreitung der Erkrankungen ist unmöglich. Deshalb lösen diese Krankheiten trotz hoher Todeszahlen keine Angst vor Kontrollverlust aus. Und im Gegensatz zur Grippe haben Medizin und Politik bei Corona das Problem, dass weder die Verbreitung noch die Behandlung des Virus richtig verstanden sind. Wir kennen die Risikofaktoren zu wenig.
Werden wir auch bei Corona irgendwann höhere Todeszahlen tolerieren, weil wir uns daran gewöhnen und das Risiko kennen?
Wenn später die Gefahr des Kontrollverlustes durch Impfungen, bessere Therapien, Wissen über die Ansteckungswege und gezielte Schutzmaßnahmen abnimmt, akzeptiert die Gesellschaft eventuell höhere Zahlen. Dann wird man vielleicht dazu kommen, die negativen Wirkungen der Schutzmaßnahmen ernster zu nehmen. Man könnte beispielsweise die Vermeidung von Corona-Toten und mögliche Todesfälle durch unterlassene Operationen anders abwägen als heute.
Dann wären auch 20 000 oder 30 000 Corona-Tote pro Jahr erträglich – wie bei der Grippe?
Die Humangenetikerin und Philosophin (Foto: pr) wurde 1962 geboren. Sie studierte Biologie und Philosophie an der Universität Tübingen und arbeitet heute als Rektorin der Evangelischen Fachhochschule in Bochum. Die Professorin ist Spezialistin für Berufsethik sozialer Berufe, unter anderem in der Pflege. Seit 2016 sitzt sie im Deutschen Ethikrat, der die Bundesregierung berät. (hako)
Solche absoluten Zahlen möchte ich nicht nennen.
Finden Sie diese Erwägung zu brutal, amoralisch, zynisch?
Sie stellen harte Fragen. Antworten darauf können schnell in politisch schwieriges Fahrwasser führen. AfD-Fraktionschef Alexander Gauland argumentierte im Bundestag mit einem Vergleich: Unsere Gesellschaft akzeptiere 3000 Verkehrstote jährlich, ohne den Autoverkehr zu verbieten. In dieser Sichtweise können auch 10 000 oder mehr Corona-Tote tolerabel erscheinen. Ich halte dagegen: Vermeidbare Todesfälle sollte man niemals einfach hinnehmen.
Warum unterhalten wir uns gesellschaftlich nicht offen darüber, wie viele Tote wir in welchem Fall akzeptieren – oder tun wir es?
Nein, das wird meist vermieden. Tod und Sterben sind in unserer Gesellschaft weitgehend tabuisiert. Vielleicht hat es damit zu
Notwendige Operationen werden verschoben, Kranke trauen sich nicht, zum Hausarzt zu gehen, alte Leute verfallen in Depression. Werden diese Folgen eigentlich ausreichend berücksichtigt?
Während des jüngsten Lockdowns in Berchtesgaden durften anfangs nicht mal Seelsorger die Patienten in Pflegeheimen besuchen. Durch solche unzumutbaren und unverhältnismäßigen Einschränkungen erleiden Menschen, die man eigentlich schützen will, erhebliche Schäden – beispielsweise verstärken sich Demenzen. Ich empfehle stattdessen regelmäßige Corona-Tests der Mitarbeitenden und kleinere Betreuungsgruppen. Das kostet mehr Geld, ist aber wirksamer und menschenfreundlicher. Und noch etwas: Man sollte endlich die Sammelunterkünfte für Flüchtlinge auflösen und die Leute in einzelnen Wohnungen unterbringen. Das wäre zweifellos eine wirksame Maßnahme.
Im Zuge der neuen Einschränkungen wurden nun auch die Kinos wieder geschlossen, obwohl man sich dort aufgrund der ohnehin schon vorgeschriebenen großen Abstände zwischen den Zuschauern quasi nicht anstecken konnte.
Ja, denselben Eindruck hatte ich bei Theaterbesuchen. Ich fühlte mich sicher. Aber darum geht es nicht.
Agieren die Regierungen unplausibel?
Ja, aber angesichts des Zeitdrucks durch rasch steigende Infektionszahlen hatte die Politik kaum eine andere Möglichkeit. Es ist aktuell notwendig, das soziale Leben generell wieder stark einzuschränken. Richtig ist aber auch: Wir brauchen künftig differenziertere Maßnahmen. Voraussetzung dafür ist zum einen mehr Wissen, und zum anderen, dass genauere Maßnahmen auch politisch durchgesetzt werden können.