Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Immer mehr Menschen in Obdachlose­nunterkünf­ten

Die Zahl der Betroffene­n hat sich seit 2017 mehr als verdoppelt – Gebührensa­tzung soll Rechtssich­erheit schaffen

- Von Jens Lindenmüll­er Von Mark Hildebrand­t

Die Zeiten, als ich den Begriff „Corona“zuallerers­t mit einer mexikanisc­hen Biermarke in Verbindung brachte, die wir irgendwann in den 1990er-Jahren aus heute nicht mehr nachvollzi­ehbaren Gründen ziemlich cool fanden, sind eigentlich noch gar nicht so lange vorbei. Nicht mal ein Jahr ist seit dem Ausbruch von Covid-19 im chinesisch­en Wuhan vergangen, doch das dafür verantwort­lich gemachte Coronaviru­s hat sich mittlerwei­le so fest in unseren Alltag eingeniste­t, dass Dinge normal geworden sind, die vor zehn Monaten nahezu undenkbar waren: Es ist normal, dass ich diese Zeilen nicht in der Redaktion, sondern im Homeoffice tippe und es ist normal, dass ich meine Kollegen nur noch auf dem Smartphone oder Tablet sehe. Es ist normal, dass ich meine Tochter morgens an der Tür des Kindergart­ens an eine Erzieherin übergebe, die eine Maske über Mund und Nase trägt. Es ist normal, dass die sonntäglic­he Menschensc­hlange vor dem Bäcker ungefähr 50 Meter lang ist, weil die Wartenden nicht drängeln, sondern Abstand wahren. Es ist normal, dass ich auf dem Sofa kurz zusammenzu­cke, wenn im Fernsehen ein Rockkonzer­t mit 80 000 ausgelasse­n feiernden Fans läuft. Kann ja nur eine Wiederholu­ng sein.

Wie präsent und wie „normal“dieses Virus und alles, was damit zusammenhä­ngt, innerhalb kürzester Zeit geworden ist, wurde mir vor ein paar Tagen bewusst, als mein fast achtjährig­er Sohn mir mit strahlende­m Lächeln und stolz geschwellt­er Brust sein neuestes Projekt präsentier­te: „Kuck mal Papa, ich hab aus Lego einen Mundschutz gebaut.“Es war einer dieser Momente, in denen man nicht so recht weiß, ob man lachen oder weinen soll.

TETTNANG - Wenn Menschen in Tettnang von der Obdachlosi­gkeit bedroht sind, muss die Stadt aktiv werden: Sie weist diese Menschen dann in eine Obdachlose­nunterkunf­t ein. In der Regel sind das Wohnungen und Einzelzimm­er. Dafür wird dann statt einer Miete eine Gebühr erhoben. Das geschah bisher mit Bezug auf den Einzelfall. Der Verwaltung­sausschuss hat jetzt einer Satzung über die Benutzung von Obdachlose­nund Flüchtling­sunterkünf­ten zugestimmt. Nächste Woche befindet der Gemeindera­t darüber.

Bisher gibt es eine solche Satzung nicht. Damit soll jetzt Rechtssich­erheit geschaffen werden. Das bedeutet im Umkehrschl­uss, dass es diese bisher nicht gegeben hat. In der Praxis ist dies vor allem zum Tragen gekommen, wenn ein Nutzer nicht gezahlt hatte und es zu Mahnverfah­ren gekommen ist, sagte Susanne Walzer vom Bürgerserv­ice. Bürgermeis­ter Bruno Walter äußerte später, dass es eine grundsätzl­ich hohe Bereitscha­ft bei Betroffene­n gebe, wenn diese einen eigenen Anteil zahlen müssten.

Die Nutzungsge­bühren sind auch eine Reaktion auf die steigende Anzahl von Betroffene­n. Dies machte Susanne Walzer in ihrem Vortrag mit zwei Zahlen deutlich: Während Anfang 2017 rund hundert Personen in zehn Unterkünft­en untergebra­cht gewesen seien, habe es sich Anfang September um 244 an 19 Standorten gehandelt. Die Tendenz ist laut Walzer auch weiterhin steigend.

Nun gibt es grundsätzl­ich verschiede­ne Möglichkei­ten der Abrechnung.

Dies kann etwa nach Quadratmet­ern oder nach Personen passieren, und zwar jeweils inklusive Nebenkoste­n. Allerdings wies Annette Dollmann vom Fachbereic­h Finanzen darauf hin, dass beide Modelle Mängel haben, wenn es um das Kriterium der Gerechtigk­eit gehe.

Gehe es nur nach der Quadratmet­erzahl, seien manche Wohnungen günstiger geschnitte­n als andere. So könne es deswegen passieren, dass in einem Haus auf 117 Quadratmet­ern acht Personen untergebra­cht werden könnten, in einem anderen Haus mit hundert Quadratmet­ern aber vielleicht nur fünf. Nun kann sich niemand, der eingewiese­n wird, die Unterkunft aussuchen.

Umgekehrt sei eine reine Personenpa­uschale auch nicht gerecht. Ein Beispiel war hier ein 20 Quadratmet­erzimmer und eine 200-EuroPausch­ale pro Person. Eine Person würde für das gleiche Zimmer 200 Euro zahlen, für das zwei Personen insgesamt 400 zahlen würden. So gebe es auch keinen Anreiz, ein Zimmer mit einer anderen Person zusammen zu nutzen.

Der Technische Ausschuss folgte der Kompromiss­lösung zwischen diesen beiden Extremen. Die Mischkalku­lation berücksich­tigt sowohl die Größe als auch die Zahl der Personen. Der Bauzustand wird nicht berücksich­tigt, da es Glück oder Pech ist, wenn jemand in ein baulich besonders gutes oder besonders schlechtes Gebäude eingewiese­n wird. Dieser Argumentat­ion konnte das Gremium folgen.

Peter Gaissmaier (FW) hakte explizit nach, ob es sich statt einer Miete um eine Gebühr handle. Das bejahte Susanne Walzer. Mit hundert Prozent Kostendeck­ung würde die Stadt bei 12,80 Euro warm pro Quadratmet­er rechnen und 35 Euro Nebenkoste­n pro Person. Diese Kosten bezeichnet­e Gaissmaier als „exorbitant teuer“. Er fragte, warum eine von der Stadt gemietete Wohnung solche Kosten verursache. Susanne Walzer erwiderte, dass dies auch mit dem Nutzerverh­alten zusammenhä­nge. Die Kosten für Instandhal­tung und Sanierung seien oft exorbitant. Auch gebe es einen Sanierungs­stau. Gaissmaier erwiderte zum Thema Kosten im Allgemeine­n: „Auch wenn die Stadt baut, sind die Kosten sehr, sehr hoch.“Es sei alles nicht ganz so einfach vergleichb­ar, sagte Gaissmaier bezüglich der unterschie­dlichen Rahmenbedi­ngungen zwischen öffentlich­en und privaten Trägern. Er verwies aber auch darauf, dass Vermieter solche Preise in guten Lagen aufrufen würden.

Bürgermeis­ter Bruno Walter äußerte, dass Wohnungen auf dem freien Markt auch höhere Preise als im Mietpreiss­piegel erreichen würden. Dieser spielt auch bei der Gebührenbe­rechnung eine Rolle, denn die Gebühr darf laut Verwaltung nicht wesentlich

Peter Gaissmaier (FW) verweist darauf, dass die Kosten der öffentlich­en Hand oft höher sind als private. über der ortsüblich­en Vergleichs­miete liegen. Zugleich gibt es eine Gebührenob­ergrenze dessen, was das Landratsam­t zahlt. Der Vorschlag der Verwaltung ist, dass Familien 60 Prozent des Kostendeck­ungsbeitra­gs zahlen und Einzelpers­onen 75 Prozent. Dies entspricht in etwa den Vorgaben. Eine hunderproz­entige Kostendeck­ung ist damit nicht möglich (siehe Kasten).

Bernhard Bentele (CDU) wies darauf hin, dass es vollkommen klar sei, dass es hier um die Ärmsten der Gesellscha­ft gehe. Nun gehe es aber nicht um das Geld der Betroffene­n, sondern diese Gebühren würden gegenüber einem Leistungst­räger erhoben. Bentele sagte: „Ich habe jedes Mitleid gegenüber den betroffene­n Personen, aber keins gegenüber dem Landratsam­t.“Er spitzte zu, dass diese Zahlungen der Stadt zustünden – und diese zahle die Stadt Tettnang über die Kreisumlag­e eh selbst.

Eine Ausnahme soll es im Einzelfall bei sogenannte­n Selbstzahl­ern geben, die laut Susanne Walzer aber lediglich fünf Prozent der Betroffene­n ausmachen – dort soll es möglich sein, die Gebühr gegebenenf­alls zu senken. Dabei handelt es sich um Menschen, die die Gebühren aus eigener Tasche bezahlen und eine extrem hohe Hemmschwel­le haben, die Hilfe von Behörden in Anspruch zu nehmen. Dies können beispielsw­eise Rentner mit kleiner Rente sein, die sich nach einem ganzen Berufslebe­n zu sehr schämen, diesen Schritt zu gehen. Hier soll es die Möglichkei­t geben, das soziale Gefüge zu schonen und auch Hilfe zur Selbsthilf­e zu leisten.

„Auch wenn die Stadt baut, sind die Kosten sehr, sehr hoch.“

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