Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Immer mehr Menschen in Obdachlosenunterkünften
Die Zahl der Betroffenen hat sich seit 2017 mehr als verdoppelt – Gebührensatzung soll Rechtssicherheit schaffen
Die Zeiten, als ich den Begriff „Corona“zuallererst mit einer mexikanischen Biermarke in Verbindung brachte, die wir irgendwann in den 1990er-Jahren aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen ziemlich cool fanden, sind eigentlich noch gar nicht so lange vorbei. Nicht mal ein Jahr ist seit dem Ausbruch von Covid-19 im chinesischen Wuhan vergangen, doch das dafür verantwortlich gemachte Coronavirus hat sich mittlerweile so fest in unseren Alltag eingenistet, dass Dinge normal geworden sind, die vor zehn Monaten nahezu undenkbar waren: Es ist normal, dass ich diese Zeilen nicht in der Redaktion, sondern im Homeoffice tippe und es ist normal, dass ich meine Kollegen nur noch auf dem Smartphone oder Tablet sehe. Es ist normal, dass ich meine Tochter morgens an der Tür des Kindergartens an eine Erzieherin übergebe, die eine Maske über Mund und Nase trägt. Es ist normal, dass die sonntägliche Menschenschlange vor dem Bäcker ungefähr 50 Meter lang ist, weil die Wartenden nicht drängeln, sondern Abstand wahren. Es ist normal, dass ich auf dem Sofa kurz zusammenzucke, wenn im Fernsehen ein Rockkonzert mit 80 000 ausgelassen feiernden Fans läuft. Kann ja nur eine Wiederholung sein.
Wie präsent und wie „normal“dieses Virus und alles, was damit zusammenhängt, innerhalb kürzester Zeit geworden ist, wurde mir vor ein paar Tagen bewusst, als mein fast achtjähriger Sohn mir mit strahlendem Lächeln und stolz geschwellter Brust sein neuestes Projekt präsentierte: „Kuck mal Papa, ich hab aus Lego einen Mundschutz gebaut.“Es war einer dieser Momente, in denen man nicht so recht weiß, ob man lachen oder weinen soll.
TETTNANG - Wenn Menschen in Tettnang von der Obdachlosigkeit bedroht sind, muss die Stadt aktiv werden: Sie weist diese Menschen dann in eine Obdachlosenunterkunft ein. In der Regel sind das Wohnungen und Einzelzimmer. Dafür wird dann statt einer Miete eine Gebühr erhoben. Das geschah bisher mit Bezug auf den Einzelfall. Der Verwaltungsausschuss hat jetzt einer Satzung über die Benutzung von Obdachlosenund Flüchtlingsunterkünften zugestimmt. Nächste Woche befindet der Gemeinderat darüber.
Bisher gibt es eine solche Satzung nicht. Damit soll jetzt Rechtssicherheit geschaffen werden. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es diese bisher nicht gegeben hat. In der Praxis ist dies vor allem zum Tragen gekommen, wenn ein Nutzer nicht gezahlt hatte und es zu Mahnverfahren gekommen ist, sagte Susanne Walzer vom Bürgerservice. Bürgermeister Bruno Walter äußerte später, dass es eine grundsätzlich hohe Bereitschaft bei Betroffenen gebe, wenn diese einen eigenen Anteil zahlen müssten.
Die Nutzungsgebühren sind auch eine Reaktion auf die steigende Anzahl von Betroffenen. Dies machte Susanne Walzer in ihrem Vortrag mit zwei Zahlen deutlich: Während Anfang 2017 rund hundert Personen in zehn Unterkünften untergebracht gewesen seien, habe es sich Anfang September um 244 an 19 Standorten gehandelt. Die Tendenz ist laut Walzer auch weiterhin steigend.
Nun gibt es grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten der Abrechnung.
Dies kann etwa nach Quadratmetern oder nach Personen passieren, und zwar jeweils inklusive Nebenkosten. Allerdings wies Annette Dollmann vom Fachbereich Finanzen darauf hin, dass beide Modelle Mängel haben, wenn es um das Kriterium der Gerechtigkeit gehe.
Gehe es nur nach der Quadratmeterzahl, seien manche Wohnungen günstiger geschnitten als andere. So könne es deswegen passieren, dass in einem Haus auf 117 Quadratmetern acht Personen untergebracht werden könnten, in einem anderen Haus mit hundert Quadratmetern aber vielleicht nur fünf. Nun kann sich niemand, der eingewiesen wird, die Unterkunft aussuchen.
Umgekehrt sei eine reine Personenpauschale auch nicht gerecht. Ein Beispiel war hier ein 20 Quadratmeterzimmer und eine 200-EuroPauschale pro Person. Eine Person würde für das gleiche Zimmer 200 Euro zahlen, für das zwei Personen insgesamt 400 zahlen würden. So gebe es auch keinen Anreiz, ein Zimmer mit einer anderen Person zusammen zu nutzen.
Der Technische Ausschuss folgte der Kompromisslösung zwischen diesen beiden Extremen. Die Mischkalkulation berücksichtigt sowohl die Größe als auch die Zahl der Personen. Der Bauzustand wird nicht berücksichtigt, da es Glück oder Pech ist, wenn jemand in ein baulich besonders gutes oder besonders schlechtes Gebäude eingewiesen wird. Dieser Argumentation konnte das Gremium folgen.
Peter Gaissmaier (FW) hakte explizit nach, ob es sich statt einer Miete um eine Gebühr handle. Das bejahte Susanne Walzer. Mit hundert Prozent Kostendeckung würde die Stadt bei 12,80 Euro warm pro Quadratmeter rechnen und 35 Euro Nebenkosten pro Person. Diese Kosten bezeichnete Gaissmaier als „exorbitant teuer“. Er fragte, warum eine von der Stadt gemietete Wohnung solche Kosten verursache. Susanne Walzer erwiderte, dass dies auch mit dem Nutzerverhalten zusammenhänge. Die Kosten für Instandhaltung und Sanierung seien oft exorbitant. Auch gebe es einen Sanierungsstau. Gaissmaier erwiderte zum Thema Kosten im Allgemeinen: „Auch wenn die Stadt baut, sind die Kosten sehr, sehr hoch.“Es sei alles nicht ganz so einfach vergleichbar, sagte Gaissmaier bezüglich der unterschiedlichen Rahmenbedingungen zwischen öffentlichen und privaten Trägern. Er verwies aber auch darauf, dass Vermieter solche Preise in guten Lagen aufrufen würden.
Bürgermeister Bruno Walter äußerte, dass Wohnungen auf dem freien Markt auch höhere Preise als im Mietpreisspiegel erreichen würden. Dieser spielt auch bei der Gebührenberechnung eine Rolle, denn die Gebühr darf laut Verwaltung nicht wesentlich
Peter Gaissmaier (FW) verweist darauf, dass die Kosten der öffentlichen Hand oft höher sind als private. über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Zugleich gibt es eine Gebührenobergrenze dessen, was das Landratsamt zahlt. Der Vorschlag der Verwaltung ist, dass Familien 60 Prozent des Kostendeckungsbeitrags zahlen und Einzelpersonen 75 Prozent. Dies entspricht in etwa den Vorgaben. Eine hunderprozentige Kostendeckung ist damit nicht möglich (siehe Kasten).
Bernhard Bentele (CDU) wies darauf hin, dass es vollkommen klar sei, dass es hier um die Ärmsten der Gesellschaft gehe. Nun gehe es aber nicht um das Geld der Betroffenen, sondern diese Gebühren würden gegenüber einem Leistungsträger erhoben. Bentele sagte: „Ich habe jedes Mitleid gegenüber den betroffenen Personen, aber keins gegenüber dem Landratsamt.“Er spitzte zu, dass diese Zahlungen der Stadt zustünden – und diese zahle die Stadt Tettnang über die Kreisumlage eh selbst.
Eine Ausnahme soll es im Einzelfall bei sogenannten Selbstzahlern geben, die laut Susanne Walzer aber lediglich fünf Prozent der Betroffenen ausmachen – dort soll es möglich sein, die Gebühr gegebenenfalls zu senken. Dabei handelt es sich um Menschen, die die Gebühren aus eigener Tasche bezahlen und eine extrem hohe Hemmschwelle haben, die Hilfe von Behörden in Anspruch zu nehmen. Dies können beispielsweise Rentner mit kleiner Rente sein, die sich nach einem ganzen Berufsleben zu sehr schämen, diesen Schritt zu gehen. Hier soll es die Möglichkeit geben, das soziale Gefüge zu schonen und auch Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.
„Auch wenn die Stadt baut, sind die Kosten sehr, sehr hoch.“