Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Sport ist Motor für soziale Kontakte“
Der Ulmer sportpsychologische Berater Markus Gretz über mögliche Auswirkungen des Lockdowns auf Sportler
LEUTKIRCH/ULM - Der neue Corona-Lockdown trifft den Sport hart. Seit Anfang des Monats ist im Amateurbereich nur noch Individualsport erlaubt, Vereine müssen ihre Angebote einstellen. Auch Fitnessstudios mussten wieder schließen. Die von der Bund-Länder-Konferenz erlassenen Maßnahmen gelten zumindest für November. SZ-Mitarbeiter Michael Mader sprach mit dem aus Leutkirch stammenden Coach und sportpsychologischen Experten Markus Gretz über mögliche Folgen.
Sport ist für viele einer der wichtigsten Lebensbereiche. Wie gehen die vielen Amateursportler in der Region aus Ihrer Sicht damit um, dass Sie nahezu keinen Sport mehr ausüben dürfen?
Der Umgang mit dieser Situation ist individuell sehr unterschiedlich. Es gibt Sportler, die kreativ nach Möglichkeiten suchen, um sich trotz Einschränkungen fit zu halten, andere resignieren und treiben kaum oder gar keinen Sport mehr.
Welche Probleme können plötzlich auftauchen? Warum ist die Situation für Sportler eine besondere Herausforderung, weil es ja schon zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres der Fall ist?
Beim ersten Lockdown war die Situation für alle neu. Kaum einer wusste, wie schwer es sein kann, sich allein und ohne Verein oder Fitnessstudio fürs Sporttreiben zu motivieren. Dadurch war der Antrieb am Anfang besonders groß, die ungewohnte Situation zu nutzen und mal neue Möglichkeiten zum Sporttreiben auszuprobieren. Ich erinnere mich noch an die Anfangszeit des ersten Lockdowns, der ja in Deutschland glücklicherweise nie ein richtiger Lockdown war, dass die Wiesen, Wälder und Felder auf einmal von Radfahrern, Läufern und Inlineskatern überflutet waren und ich in den sozialen Medien von vielen Freunden über ihre sportliche Aktivität informiert wurde. Der anfängliche Aktionismus ist aber bei einigen schnell verflogen, weil sie es nicht geschafft haben, die Motivation langfristig aufrechtzuerhalten. Beim zweiten Lockdown könnten jetzt deshalb einige in die Gedankenfalle tappen, dass es sich nicht lohnt, neue kreative Ideen zu entwickeln, da die Motivation sowieso nicht anhält.
Laufen ist ja noch erlaubt. Sollen Mannschaftssportler wie Fußballer, Handballer oder Basketballer jetzt vermehrt joggen? Oder im Homeoffice auf dem Laufband trainieren? Wie schafft man es, sich dazu zu motivieren?
Für Mannschaftssportler kann es besonders schwer werden, sich zu motivieren, da sie es gewohnt sind, in spielerischer Form mit Teamkollegen Sport zu treiben. Damit die körperliche Fitness aber nicht komplett verloren geht und beim Wiedereinstieg die Verletzungsgefahr nicht steigt, sollten sich gerade diese Sportler einen Trainingsplan erarbeiten. Die Situation kann ja auch als Chance gesehen werden, gezielt an der Kondition zu arbeiten. Ein gezieltes Ausdauer-, Kraft-, Beweglichkeitsoder Stabilitätstraining kommt sonst während der Saison meist etwas zu kurz. Wenn Spielsportler sich dann für ein Lauftraining entscheiden, sollten sie möglichst oft in Intervallen trainieren, weil das der Belastung im Spiel am nächsten kommt. Das heißt, auf der Joggingstrecke werden kurze und längere Sprints eingebaut und dazwischen wird wieder langsamer gelaufen. Mit einem Trainingspartner kann das sogar richtig Spaß machen, indem man immer wieder kleine Sprint-Rennen gegeneinander läuft.
Sport bedeutet – meist zumindest – auch soziale Kontakte. Ist dieser Verlust noch höher einzustufen als die reine sportliche Betätigung? Der Sport ist für viele sicher ein Motor, soziale Kontakte zu knüpfen oder zu pflegen. Aktuell ist das zwar nur noch eingeschränkt möglich. Allerdings
ist beispielsweise gemeinsames Joggen oder Radfahren mit einem Teamkollegen ja noch erlaubt. Deshalb kann und sollte diese Möglichkeit weiterhin genutzt werden, da mit Abstand an der frischen Luft auch wenig Infektionsrisiko besteht. Damit das ganze Team wieder zusammenkommt und in großer Gruppe gescherzt und geflachst werden kann, habe ich von vielen Mannschaften mitbekommen, dass sie sich zum gemeinsamen Krafttraining über eine Videotelefonieplattform getroffen haben.
Wie kann die Sportpsychologie helfen?
Damit man langfristig motiviert bleibt, lohnt es immer, sich konkrete Ziele zu setzen. Als sportpsychologikann. scher Berater setze ich mich dafür oft mit meinen Klienten zusammen und überlege erst einmal, was ich mit dem Training bezwecken will, was realistisch ist, sowohl zeitlich, körperlich als auch motivational, um dann gute herausfordernde Ziele für eine bestimmte Zeit festzulegen. Als einfache Faustregel kann man sich an die Smart-Regel halten: Ein Ziel sollte demnach spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und zeitlich terminiert sein. Anschließend geht es darum, den Trainingsplan auf die Ziele auszurichten. Wenn das Training dann einen konkreten Beitrag leistet, um ein Ziel zu erreichen, ist es viel einfacher, sich dazu aufzuraffen. Außerdem empfehle ich meinen Klienten immer die Ziele in gewissem Maße öffentlich zu machen oder sie zumindest schriftlich festzuhalten, um ihnen eine größere Verbindlichkeit zu geben. Außerdem kann man Trainingsfortschritte mit Freunden und Familie teilen, wodurch man soziale Anerkennung und dadurch auch eine gewisse Art von Belohnung erfährt.
Werden oder sollen sogar Menschen im Lockdown anfangen, Sport zu treiben? Kann Sport auch in dieser Zeit zu einem Ausgleichsfaktor werden? Wie sind da Ihre Erfahrungen?
Der Lockdown bietet sicher auch eine Möglichkeit für Personen, die vorher keinen Sport getrieben haben, um die zusätzliche Zeit zu nutzen und mit dem Sport anzufangen. Dadurch profitiert vor allem die körperliche Gesundheit, indem Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen entgegengewirkt werden Außerdem bietet der Sport eine sinnvolle Ablenkung von zu großem Medienkonsum. Die Bildschirmzeit ist vermutlich bei vielen deutlich gestiegen, weshalb es sich lohnt, rauszukommen und die Augen in der Natur zu entspannen. Aber auch für die Psyche hilft der Sport Stress abzubauen, schafft Glücksgefühle und kann sogar eine mentale Entspannung erzeugen. Außerdem wird der Alltag, der zurzeit für viele im Homeoffice sehr unstrukturiert ist, durch eine fest eingeplante Sporteinheit zumindest etwas strukturierter. Damit man langfristig am Ball bleibt, sollten sich aber vor allem Anfänger zu Beginn nicht zu viel zumuten. Lieber langsam einsteigen und die Trainingsumfänge und Trainingseinheiten nach und nach steigern. Dann klappt es vermutlich sogar über den Lockdown hinaus mit dem Sporttreiben und wir können uns ohne schlechtes Gewissen in der Weihnachtszeit bei den Plätzchen bedienen.