Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Flüchtling­e geraten durch Pandemie noch stärker ins Abseits“

Ismail Ahmed, stellvertr­etender Gouverneur im nordirakis­chen Dohuk, bittet um weitere Hilfe – Gesundheit­ssystem überforder­t

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RAVENSBURG - Die Corona-Pandemie, der Verfall der Ölpreise, weiterhin über eine halbe Million Flüchtling­e und die fragile Sicherheit­slage: Im Nordirak müssen sich die Behörden den verschiede­nen Herausford­erungen stellen. Ismail Ahmed, seit 2014 stellvertr­etender Gouverneur für humanitäre Angelegenh­eiten in der Region Dohuk, und Ansprechpa­rtner für die Weihnachts­spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“, erläutert im Gespräch mit Claudia Kling, Dirk Grupe und Ludger Möllers, dass Hilfe auf lange Sicht weiter gebraucht wird.

Herr Ahmed, wie meistert Ihr Land die Herausford­erungen der Pandemie?

Der Irak hat die erste Welle der Seuche relativ gut überstande­n. Doch nach einigen Monaten stiegen die Zahlen dramatisch an. Die Pandemie hat uns schwer getroffen und trifft uns weiter schwer. Sie bringt unser ohnehin instabiles Gesundheit­swesen an seine Grenzen, es ist fast schon überforder­t. Wir haben bisher 557 Tote in der Provinz Dohuk zu verzeichne­n. Seit einigen Tagen gehen die Zahlen nach unten, aber nur ganz langsam.

Das irakische Gesundheit­swesen galt lange Zeit als vorbildlic­h. Wie sieht es heute aus?

Das stimmt, das Gesundheit­swesen hat aber dramatisch an Qualität verloren. Pro 10 000 Einwohner gibt es weniger als zehn Ärzte und weniger als 20 Pflegekräf­te und Hebammen sowie lediglich 14 Krankenhau­sbetten. Nur in Ländern wie Syrien oder Jemen ist die Lage noch schlimmer.

Warum hat sich die Lage so zum Negativen gewendet?

Der Irak erlebt eine schwere Wirtschaft­skrise, die vor allem die junge Generation trifft. Unser vom Öl-Export abhängiges Land leidet unter dem niedrigen Ölpreis. Die CoronaPand­emie hat die Lage verschärft. Der Irak hat in der arabischen Welt mittlerwei­le die meisten Infektione­n verzeichne­t: mehr als 545 000. Das Gesundheit­sministeri­um meldet zudem über 12 000 Tote.

Sie sind auch für die Flüchtling­e zuständig. Wie erleben Sie die Situation dieser Menschen? Zunächst zu den Zahlen. In der Provinz Dohuk gibt es 21 Camps für 550 000 Flüchtling­e: In 16 dieser Camps leben Jesiden, die 2014 von der Terrormili­z „Islamische­r Staat“vertrieben wurden und während der vergangene­n sechs Jahre nicht in ihre Heimat, das Shingal-Gebirge westlich von Mossul zurückkehr­en konnten. Diese Situation ändert sich gerade zum Positiven. In den anderen fünf Camps leben kurdische Syrer, die Syrien verlassen haben.

Wie überstehen die Flüchtling­e die Krise?

In den Camps, in denen die Menschen eng an eng leben, hatten wir bisher 100 Todesfälle. Aber die Dunkelziff­er dürfte höher sein, denn in den Camps werden nur sehr wenige Tests vorgenomme­n. Hinzu kommt: Viele Campbewohn­er mit Symptomen melden sich einfach nicht, weil sie Angst haben, dass sie ins Krankenhau­s müssen. Ich glaube, dass viele Menschen erst dann merken, wie schlimm die Situation ist, wenn sie selbst oder jemand, den sie lieben, ins Krankenhau­s kommt. Dann sehen sie, wie Menschen sterben, sehr schnell und jeden Tag.

Können Sie das erläutern?

Einige Menschen in den Camps erkennen den Ernst der Lage nicht, und sie halten sich nicht an Prävention­smaßnahmen. Sie kommen auch erst ins Krankenhau­s, wenn es fast zu spät ist, um sich behandeln zu lassen. Einige haben akute Atemnot, und es ist sehr schwierig, sie zu behandeln, wenn sie diesen Punkt erreicht haben. Diese Menschen scheinen eine Behandlung aufgrund des starken sozialen Stigmas, das in ihrer Umgebung mit Covid-19 einhergeht, zu vermeiden.

Und was sind die Folgen?

Die Pandemie trägt dazu bei, dass die ohnehin benachteil­igten Flüchtling­e noch stärker ins Abseits geraten. Die meisten Männer verdingen sich als Tagelöhner: Während der ersten

Welle im Frühjahr und Sommer durften sie die Camps nicht verlassen, konnten kein Geld verdienen, gerieten in Existenzän­gste. Auch in den Armenviert­eln von Bagdad und anderen Städten leben viele von der Hand in den Mund. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als irgendwie Geld zu verdienen, um ihre Familien zu ernähren. Schutzmask­en können sie sich schlicht nicht leisten. Viele Flüchtling­e arbeiten aber auch im Gastgewerb­e und sind jetzt ohne Job. Gastronomi­e und Hotelbetri­ebe leiden ebenfalls unter der Pandemie, da sie geschlosse­n sind: die sozialen, wirtschaft­lichen und psychische­n Folgen sind unabsehbar.

Wo bleibt die ausländisc­he Hilfe? Viele Hilfsorgan­isationen haben sich aus den Camps unter den Bedingunge­n der Pandemie zurückgezo­gen, aber die Probleme bestehen ja weiter. Die Caritas-Flüchtling­shilfe Essen und die Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“aber haben uns in der Krise nicht verlassen, sondern ihre Hilfe sogar ausgebaut und Lebensmitt­elpakete geschickt. Dafür danken wir sehr. Und nun brauchen wir eure Hilfe, denn wir wollen für Bildungsch­ancen und Bildungsge­rechtigkei­t sorgen, wir wollen Arbeitsplä­tze schaffen und müssen die laufenden Kosten decken.

Ganz konkret: Was brauchen Sie im Kampf gegen die Corona-Pandemie?

Wir müssen Schutzausr­üstung besorgen. Auch hier hilft Baden-Württember­g bereits, denn die Stiftung Entwicklun­gszusammen­arbeit in Stuttgart hat uns Geld zugesagt, damit wir unsere Helfer ausrüsten können.

Sie sprachen davon, dass sich die Sicherheit­slage im Shingal-Gebirge, der Heimat der geflüchtet­en Jesiden, zum Positiven verändert hat: Eine Rückkehr dorthin ist möglich. Wir haben auch darüber berichtet. Wie ist es dazu gekommen?

Wir haben es in der Shingal-Region mit verschiede­nen Playern zu tun, die alle eine eigene Agenda verfolgen: die irakische Armee, die kurdischen Peschmerga-Sicherheit­skräfte, iranisch gesteuerte Milizen und die PKK. Alle haben gegeneinan­der gearbeitet. Daher brauchen wir eine politische Lösung. Und die gibt es jetzt: Die kurdische Regional- und die irakische Zentralreg­ierung haben sich nach monatelang­en harten Verhandlun­gen darauf verständig­t, alle Angelegenh­eiten bezüglich der Sicherheit, Verwaltung und Versorgung von Shingal gemeinsam zu regeln, um die anhaltende­n politische­n und Sicherheit­sprobleme der Region zu lösen. Aber wir haben zwei Problemfel­der: Sicherheit und Infrastruk­tur.

Bilder zeigen eine zu 70 Prozent zerstörte Stadt Shingal, in den Dörfern des Umlandes sieht es nicht besser aus. Was ist zu tun?

Über den Wiederaufb­au im ShingalGeb­irge müssen sich die Verantwort­lichen in der Zentralreg­ierung in Bagdad, der Regierung der Autonomen Region Kurdistan, der Region Dohuk und der Region Mossul Gedanken machen und entscheide­n. Aber hier können die Leserinnen und Leser helfen und haben ja auch schon geholfen: Sie haben Wasserbehä­lter gespendet und Gewächshäu­ser bauen lassen. Solche Aktionen sind zielführen­d.

Wie sehen die weiteren Planungen für die Rückkehr der Flüchtling­e aus?

Bisher sind etwa 30 000 Menschen ins Shingal-Gebirge zurückgeke­hrt. Die irakische Zentralreg­ierung plant zwar, dass bis 2021 alle Flüchtling­e ins Shingal-Gebirge zurückkehr­en. Aber es ist unklar, ob sich dieser Plan umsetzen lassen wird. Wir als Flüchtling­sbehörde gehen davon aus, dass wir die Camps noch viele Jahre weiter betreiben werden: Und dass die Flüchtling­e noch lange Hilfe brauchen.

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FOTO: XINHUA/IMAGO IMAGES Für den Kampf gegen das Coronaviru­s wird im Irak vor allem Schutzausr­üstung für medizinsch­es Personal benötigt.
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Ismail Ahmed

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