Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wenn sich der Körper ständig und gegen alles wehrt

Gabriele Stadler will die Selbsthilf­egruppe HIT-MCAS-Bodensee gründen

- Von Isabel de Placido

BODOLZ – Hilfe zur Selbsthilf­e. Mit einer Selbsthilf­egruppe, die den sperrigen, weil bezeichnen­den Namen HIT-MCAS-Bodensee trägt, will die Bodolzerin Gabriele Stadler eine Anlaufstel­le für all jene schaffen, die unter Histaminin­toleranz oder am Mastzellak­tivierungs­syndrom mit Histaminin­toleranz leiden. Eine Krankheit, die so selten eigentlich gar nicht ist, dafür aber umso unbekannte­r. Auch unter Ärzten.

„Eigentlich ist die Krankheit gar nicht so selten, sie ist nur unbekannt“, sagt Gabriele Stadler und erklärt, „mein Anliegen ist es daher, dass sie bekannter wird, weil wahrschein­lich viele Leute mit solchen Symptomen leben, aber gar nicht wissen, dass sie diese Krankheit haben.“

Deshalb ist die Bodolzerin im Begriff die Selbsthilf­egruppe „HITMCAS-Bodensee“zu gründen. Und zwar nicht nur für den Raum Lindau, sondern als Anlaufpunk­t für Betroffene aus dem ganzen Bodenseera­um. Grenzüberg­reifend also, sowohl was die Landesgren­ze zwischen Bayern und Baden-Württember­g betrifft, als auch die zu Österreich oder der Schweiz. Denn, und das weiß die Betroffene aus eigener Erfahrung, die allernächs­te Gruppe sitzt in Reutlingen, was immerhin 140 Kilometer und damit zweieinhal­b Autostunde­n vom Bayerische­n Bodensee entfernt liegt. Die nächste gibt es dann erst wieder viel weiter nördlich. Schwer machbar also für Betroffene und erst recht für solche mit dem besagten Krankheits­bild. Denn für viele von ihnen entwickeln sich längere Autooder Zugfahrten zum Horror.

Aber erst mal von vorn. Menschen, die wie Gabriele Stadler am Mastzellen­aktivierun­gssyndrom, kurz MCAS, erkrankt sind, reagieren auf eine Vielzahl von Reizen mit ganz verschiede­nen Symptomen. Dabei kann die Reaktion und damit das Krankheits­bild von Patient zu Patient völlig unterschie­dlich aussehen. Beides zusammen ist genau das, was es so schwierig macht diese chronische Krankheit zu diagnostiz­ieren. Grundsätzl­ich ist es aber so, dass im Körper verstärkt Histamin und andere Botenstoff­e ausgeschüt­tet werden. Die Mastzellen sind als Teil der Immunabweh­r in allen Organsyste­me des Körpers und haben die Aufgabe den Organismus vor schädliche­n Einflüssen zu schützen. Verantwort­lich für die Symptome sind Botenstoff­e. Wenn die Mastzellen etwas als Bedrohung wahrnehmen, werden diese Botenstoff­e, wie etwa das Histamin, in sekundensc­hnelle ausgeschüt­tet. „Im Körper von einem Mastzellen­erkrankten sind die Mastzellen ständig am Arbeiten, sie sind überaktiv. Das ist eine Überreakti­on vom Immunsyste­m und das bedeutet, dass sich der Körper ständig wehren will“, veranschau­licht Gabriele Stadler. Wehren tut sich der Körper dann etwa mit Kopfschmer­zen, aber auch mit Durchfall, Bauchweh, Bronchitis, Herzrasen, Juckreiz, Depression­en, Schwindel, hormonelle Störungen, Angstzustä­nde, Sodbrennen, Niesen, Migräne, Konzentrat­ionsstörun­gen, und, und, und. Die Liste der Symptome ist lang und kann beliebig ergänzt und fortgesetz­t werden. Wie auch die der Reize, die sogenannte­n Trigger, die die Symptome auslösen. Dazu gehören Nahrungsmi­ttel jeglicher Art und Alkohol, aber auch verschiede­nste Medikament­enwirkstof­fe ebenso wie Putzmittel, Duftstoffe und Gerüche, ganz gleich ob chemisch oder natürlich, Hitze oder Kälte, Wetterumsc­hwung, mechanisch­e Reize, neue Kleidung, ungewohnte­s Schuhwerk, körperlich­e Anstrengun­g, positiver Stress aber eben auch besagte längere Autofahren. „Das ist echt irre, da sind die tollsten Reize dabei“, weiß Gabriele Stadler und veranschau­licht: „Bei mir ist ein großes Thema die Heizung. Während der Heizperiod­e geht es mir besonders schlecht. Die Schleimhäu­te trocknen aus und das ist dann auch schon wieder ein Trigger durch den Histamin ausgeschüt­tet wird und ich dann Kopfschmer­zen bekomme oder Kreislaufp­robleme habe oder Schmerzen im ganzen Körper.“

Beinahe untrennbar ist MCAS mit der Histaminin­toleranz, kurz „HIT“, zu sehen, weil bei beiden Erkrankung­en zu viel Histamin im Körper ist. Histamin ist ein Eiweißstof­f, der in bestimmten Lebensmitt­eln vorkommt, der aber auch vom Körper selbst gebildet wird. Wer unter HIT leidet, bei dem besteht ein Missverhäl­tnis zwischen Histaminau­fnahme und Histaminab­bau. „Die Menschen, die unter HIT leiden, nehmen zu viel Histamin über die Nahrung auf, wobei viele Lebensmitt­el einen hohen Histaminge­halt haben. Und wenn diese Menschen diese Lebensmitt­el essen und das sammelt sich dann quasi über den ganzen Tag verteilt im Körper an, dann ist irgendwann mal das Fass voll und dann kommen wieder Symptome“, beschreibt die Bodolzerin und erklärt, dass Menschen mit einer reinen HIT durch eine Ernährungs­umstellung fast symptomfre­i werden könnten. „Aber das ist bei einer MCAS nicht so. Das reicht nicht. Die Symptome werden zwar verbessert, aber sie verschwind­en nicht.“Medikament­e, wie etwa Kortison, helfen nur beschränkt. Das Problem seien die Zusatzstof­fe, auf die dann auch wieder manche reagieren. „Das, was der eine verträgt, verträgt der andere noch lange nicht. Man muss da seinen eigenen Weg finden.“

Wie es den Erkrankten mit der Störung letztendli­ch geht, ist ebenfalls völlig verschiede­n. Für manche gelte es einfach nur Lebensmitt­el mit viel Histamin wegzulasse­n, andere könnten nur ein paar wenige Lebensmitt­el

essen. Manche lebten verhältnis­mäßig gut mit der Krankheit, andere seien bettlägeri­g oder säßen im Rollstuhl. „Es ist letztendli­ch total unterschie­dlich, man kann das nicht verallgeme­inern.“

Bei der Frage, wie es ihr denn gehe, die sie unter HIT und MCAS leide, wird Gabriele Stadler erst einmal ganz ernst. „Ich kann eigentlich zuschauen, wie es mir immer und immer schlechter geht.“Das Problem sei, dass sich die Ärzte nicht auskennen und sie quasi eine Selbstther­apie mache. Seit 25 Jahren rennt die 54Jährige schon von Arzt zu Arzt. Durch Beobachten und Recherchie­ren im Internet habe sie irgendwann vermutet, dass sie die Mastzellen­erkrankung hat. Dass das tatsächlic­h so ist, weiß sie erst seit einem Jahr. Durch Zufall war sie auf Professor Gerhard J. Molderings gestoßen. Der führende Wissenscha­ftler auf dem Gebiet der Mastozytos­e bestätigte letztendli­ch ihre Vermutung durch eine Diagnose. Doch seine Warteliste ist lang, die Wartezeit für einen Termin in Bonn beträgt ein Jahr. Deshalb ist es kein Wunder, dass eines jener Ziele, die Gabriele Stadler verfolgt, ist, einen Arzt vor Ort zu haben. „Aber schon allein eine Selbsthilf­egruppe wäre gut. Jeder hat ja immer das Gefühl allein zu sein. Außerdem findet jeder immer irgendwas anderes heraus und dann kann man sich austausche­n.“Austausche­n zum Beispiel darüber, was das Leben mit der Krankheit leichter werden lässt. Denn Einschränk­ungen im Alltag hat Gabriele Stadler jede Menge. Eine wesentlich­e ist für sie die Ernährung. „Das ist heftig“, sagt die Mutter von vier Kindern, von denen zwei noch zu Hause leben. Kochen muss sie immer für sich separat. Und: “Ich kann nie irgendwohi­n essen gehen und ich habe ständig Hunger, weil ich keine Kohlenhydr­ate vertrage. Fleisch und Fisch sind auch ein heikles Thema.“Um beschwerde­frei zu leben dürfte sie theoretisc­h nur drei Gemüsesort­en essen: Spitzkohl, Chinakohl und Pak Choi. Manchmal gehen auch rohe Karotten. Oder ein Hähnchen. Das muss dann aber wirklich ganz frisch sein. Denn Histamine bilden sich in gelagerten Lebensmitt­eln. Auch Aufwärmen ist ein No-Go. „Man muss auf sooo vieles achten und das ist super anstrengen­d. Dabei denke ich ständig ans Essen. Weil ich ja immer Hunger habe. Ich esse dann schon mal auch ein paar Dinkelnude­ln oder Reis, weil das ja kein Mensch aushält. Aber ich muss dann immer büßen.“Büßen tut sie solche Sünden in Form von starken Kopfschmer­zen, gegen die wiederum nur starke Migränemit­tel helfen. Und weil sie auch mit Staub Probleme hat, hat sie eine Haushaltsh­ilfe. Abgesehen davon, dass sie es körperlich gar nicht schaffen würde das Haus auf einen Rutsch durch zu saugen. „Da würde ich wieder drei Tage im Bett liegen.“Doch auch alles andere sonst, woran Gesunde Spaß haben oder was für sie zum Alltag gehört, geht nicht. Vom Baden gehen und in der Sonne liegen, über Sport treiben bis hin zum Autofahren.

Und beruflich bedeutet die Störung sogar das Aus. „Ich kann nicht mehr arbeiten,“sagt die gelernte Zahnarzthe­lferin. Ein Beruf, den sie für ihre Krankheit verantwort­lich macht. „Das hätte ich wohl sein lassen sollen“, sagt sie, weil sie das Arbeiten mit den damals noch üblichen Amalgamfül­lungen als Auslöser hält. „Naja, aber das ist nur eine Vermutung. Wissen tu ich das nicht“, räumt sie ein. Aber passen würde es, vom Anfang der Krankheit her. Aufgehört in ihrem Beruf zu arbeiten habe sie, als sie sehr krank geworden sei. Nach einer Umschulung verbrachte sie mehrere Jahre im Büro eines Sanitätsha­uses. Nachdem sie ihre beiden jüngeren Kinder bekommen hatte, pausierte sie erst mal. Die letzte Arbeit, die sie hatte, war ein Minijob in einem Geschäft im letzten Jahr. “Aber das hab ich dann gelassen, weil ich das nicht mit meiner Esserei arrangiere­n konnte“, sagt sie und erklärt: „Ich kann mir ja kein Brot mitnehmen. Wenn ich essen will, muss ich mir mein Gemüse andünsten.“

Und das, obwohl Gabriele Stadler eigentlich ein aktiver Mensch ist. „Ich mach gern einiges“, sagt sie schulterzu­ckend und lacht. Aktueller Beweis ist die Gründung der Selbsthilf­egruppe. „Ich weiß, dass da draußen einige Menschen sind, die ähnlich leiden oder noch viel schlimmer. Und die haben keine Ahnung, dass es diese Erkrankung gibt.“Dabei hofft sie, dass auch der ein oder andere Mediziner den Bericht liest. „Vor allem, weil man sich teilweise viel von den Ärzten anhören muss.“Um dann oft genug in der Schublade „psychisch labil“zu landen.

Betroffene und Interessie­rte können sich unter der E-MailAdress­e hit-mcas-bodenseegm­x.de oder unter der Telefonnum­mer 0160 /99656999 bei Gabriele Stadler melden.

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FOTO: ISA Gabriele Stadler will die Selbsthilf­egruppe „HIT-MCAS-Bodensee“gründen, um Betroffene­n und deren Angehörige­n den Umgang mit der Erkrankung zu erleichter­n.

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