Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Das ist etwas, das Vertrauen stärken könnte“
Der Ulmer Virologe Thomas Mertens zum Hin und Her bei der Verwendung des Astrazeneca-Impfstoffs
RAVENSBURG - Zunächst war der Impfstoff nicht für Senioren freigegeben, dann für alle – und nun nur noch für Menschen, die älter sind als 60 Jahre. Als Chef der Ständigen Impfkommission am Robert-KochInstitut ist der Ulmer Virologe Thomas Mertens an diesem Entscheidungsprozess führend beteiligt gewesen. Ulrich Mendelin hat ihn befragt.
Herr Mertens, wie würden Sie die erneute Änderung der Altersgrenzen beim Impfstoff Astrazeneca jemandem erklären, der das Vorgehen für widersprüchlich hält?
Im Grunde ist es einfach. Wir können nur auf der Grundlage verfügbarer jeweils wissenschaftlicher Daten prüfen und empfehlen. Die Nebenwirkung konnte erst kürzlich vom Paul-Ehrlich-Institut entdeckt werden, nachdem viele Menschen geimpft worden waren, denn die schwere Nebenwirkung ist mit 1 bis 2 je 100 000 sehr selten und konnte in den Zulassungsstudien nicht gesehen werden. Wir hatten genau dies den Menschen vor Beginn der Impfkampagne versprochen, nämlich dass genau aufgepasst werden würde, und das ist geschehen. Die Tatsache, dass ein seltenes Risiko in einer bestimmten Altersgruppe – mit heftigerer Reaktion auf die Impfung – rasch entdeckt wurde und rasch entsprechend gehandelt wurde ist eigentlich etwas, was Vertrauen stärken könnte. Tatsächlich aber dürften mit der jüngsten Entscheidung die generellen Zweifel am Astrazeneca-Impfstoff eher wachsen. Haben Sie für diese Zweifel Verständnis?
Ja, aber die jetzige Folge eines Sicherheitssignals in einer bestimmten Altersgruppe hat nichts mit der Wirksamkeit des Impfstoffes bei älteren Menschen zu tun.
Unsicherheit gibt es auch bei der Frage, wie es nach den Osterferien an den Schulen weitergehen soll. Bislang hieß es, Kinder seien durch das Coronavirus weniger gefährdet als Erwachsene. Mit dem verstärkten Auftreten der britischen Mutante scheint sich dies zu ändern, in keiner Altersgruppe ist der Anstieg der Neuinfektionen so stark wie bei Kindern unter 14 Jahren. Gilt das auch für die Zahl der schweren Krankheitsverläufe?
Nein und ja. Kinder und junge Menschen haben weiterhin ein wesentlich geringeres Risiko bei einer SARS-CoV-2 Infektion schwer zu erkranken. Wenn natürlich viel mehr Kinder infiziert werden, dann werden absolut gesehen auch mehr erkranken.
Wenn Schulen und Kindergärten so weit wie möglich geöffnet bleiben sollen, stellt sich umso drängender die Frage nach einem Impfstoff für Kinder. Warum dauert die Entwicklung eines Impfstoffes für Kinder so viel länger als für Erwachsene?
Es geht dabei nicht um die Entwicklung eines neuen Impfstoffes. Es muss durch Ergebnisse aus klinischen Studien sichergestellt werden, dass der Impfstoff auch bei Kindern sicher und wirksam ist. Das ist in den bisherigen Studien nicht untersucht worden, aber zurzeit laufen solche Studien, in denen Kinder geimpft und nachverfolgt werden. Sobald diese Studien abgeschlossen sind, kann eine Erweiterung der Zulassung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA erfolgen.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte davon gesprochen, dass im Sommer ein Impfstoff für Kinder zur Verfügung stehen könnte. Halten Sie ihn für zu optimistisch?
Ich glaube, dass die ersten Zahlen noch schneller verfügbar sein werden.
Wie wichtig ist die Freigabe eines Impfstoffes für Kinder für das Ziel, eine ausreichend hohe Impfquote in der Gesamtbevölkerung zu erreichen?
Im Augenblick stehen bei den verfügbaren Impfstoffdosen die Kinder nicht so im Vordergrund der Bemühungen um den Individualschutz, also den Schutz des gefährdeten einzelnen Menschen. Wenn wir viel Impfstoff haben werden, wäre es natürlich auch sehr wichtig, die Kinder für den Gemeinschaftsschutz „Herdenimmunität“impfen zu können.